Wunder des Lebens eng an den Tod geknüpft

10.03.21

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Palliativpflegefachfrau

Palliativpflegefachfrau Karin Zimmermann (39) erfuhr am eigenen Leib, wie nah Freude und Trauer beieinander liegen. Sie war mit Zwillingen schwanger. Drei Monate vor dem Geburtstermin starb eines ihrer Kinder.

Die kleine Merja leert die Kiste mit den Duplos aufs Parkett, dass es nur so scheppert. Karin Zimmermann zuckt nicht mit der Wimper. Die Mutter des 1.5-jährigen Mädchens lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, während sie davon erzählt, was mit Merjas Zwillingsschwester Laila passiert ist.

Ursprünglich plante Zimmermann, die im Oberaargau aufwuchs, Biologie oder Psychologie zu studieren oder Lehrerin zu werden. Sie wollte vor dem Studium reisen, brauchte Geld und jobbte deswegen in einer Wohngemeinschaft für körperlich schwerbehinderte Erwachsene. Dieses Praktikum motivierte sie ihre Berufspläne zu ändern und die Ausbildung zur Pflegefachfrau zu absolvieren. «Dazu kam, dass mir der Kontakt zu Menschen schon immer gefiel.»

Der letzte Wunsch

Ein gutes Jahr nach ihrer Ausbildung erkrankte Zimmermanns Vater an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Sieben Monate nach der Diagnose starb er zu Hause. Seine Familie hatte ihm ermöglicht, die letzten Wochen trotz komplexer Symptome, mit Magensonde und Spinalkatheter, daheim zu verbringen. Im Emmental, wo ihre Eltern damals lebten, gab es noch kein ambulantes Palliative-Care-Team wie Palliaviva.

«Dieses Erlebnis machte mir bewusst, aus welchem Grund ich meinen Beruf gewählt habe.» Die Begleitung ihres Vaters motivierte sie, einen MAS in Onkologiepflege zu machen und in der ambulanten Onkologie zu arbeiten Später kam die Spezialisierung zur Breast Care Nurse dazu. Inzwischen arbeitete Zimmermann auch am Brustzentrum in Zürich und in der Paracelsus-Klinik in Richterswil.

Patientinnen und Patienten genau zuzuhören und sie zu beraten, gefiel mir an meiner Arbeit immer schon am besten.» Karin Zimmermann, Palliativpflegefachfrau

Zwischen den verschiedenen beruflichen Engagements lagen immer wieder ausgedehnte Reisen. Mit ihrem Partner erkundete sie unter anderem per Velo Indien, Nepal und Ostafrika. Als Onkologie-Pflegefachfrau engagierte sie sich zudem in einem medizinischen Projekt in Äthiopien.

Im Februar 2018 stiess sie zu Palliaviva.

Ihre Erfahrung mit Krebspatientinnen und -patienten half ihr beim Start im ambulanten Palliative-Care-Team. Viele Symptome, mit denen die Palliaviva-Patientinnen und -Patienten zu tun haben, kannte sie bereits. Neu war für sie, die Menschen bis ganz zum Schluss zu begleiten. «Ihnen genau zuzuhören und sie zu beraten, gefiel mir an meiner Arbeit immer schon am besten.»

Das Drama im Mutterleib

Ende des Jahres 2018 erwarteten Karin Zimmermann und ihr Partner Zwillinge. Sie waren voller Vorfreude, aber auch besorgt, weil Laila, eines ihrer ungeborenen Mädchen, kleiner und schwächer war als das andere.

An einem Freitag kurz vor Ostern 2019 befand sich das Kind schliesslich in kritischem Zustand, und sie traten notfallmässig ins Spital ein. Würde es sich um ein einzelnes Kind handeln, wäre die Indikation zur Entbindung klar, meinte der Gynäkologe. Es konnte jedoch nicht nur ein Zwilling geholt werden. Laila war halb so schwer wie ihre normal entwickelte Schwester. Ihr konnte man nur ausserhalb des Mutterbauchs helfen – und das auch nur vielleicht. Merja hingegen ging es besser drin.

Die werdenden Eltern waren verunsichert, standen vor diesem Dilemma und wollten die Entscheidung noch einmal überschlafen. «Es war der Todestag meines Vaters», erzählt Karin Zimmermann auf dem Sofa, zieht die Knie an die Brust. «Ich konnte nicht im Spital bleiben, es zog mich nach Hause. Am Montagmorgen früh fand eine Untersuchung bei der Zwillingsspezialistin statt. Der Koffer für den Spitalaufenthalt war gepackt.» Da hatte Lailas Herz bereits aufgehört zu schlagen. Das tote Kind blieb bis zur Geburt im Mutterbauch.

Merja bewegte sich stark. Der Tod ihrer Schwester muss sie völlig irritiert haben.» Karin Zimmermann

Merja plappert: «Hose, Hose.» Sie hält in der einen Hand ihre Puppe, in der anderen winzige, rosafarbene Kleider. Sie habe im Bauch intensiv reagiert, wahrscheinlich weil sie den Herzschlag ihrer Schwester nicht mehr hörte und ihre Bewegungen nicht mehr spürte, erzählt Zimmermann. «Sie bewegte sich stark. Der Tod ihrer Schwester muss sie völlig irritiert haben.»

Da sie einige Wochen der restlichen Schwangerschaft meistens liegend verbringen musste, «hatte ich auch viel Zeit zum Trauern». Unterstützung fanden sie und ihr Partner in der Fachstelle für Kindsverlust, einer lokalen Hebamme, welche Trauerbegleitungen anbietet, und ihrem sozialen Umfeld. «In Momenten, in denen es mich durchschüttelte, halfen einfache Tipps wie Hinstehen und den Boden unter den Füssen zu spüren oder eine Decke für Lailas Särgli zu stricken.» Zu schaffen machten ihr anfänglich Schuldgefühle, weil sie gezögert und so allenfalls Lailas Tod riskiert habe.

Die Zeit zwischen Lailas Tod und der Geburt der Zwillinge sei eine Achterbahn der Gefühle gewesen. Einerseits war da die starke Trauer um Laila, dazu kam Angst um das gesunde Kind und Gedanken, wie dieses mit dem Verlust seiner Schwester umgehen werde. Karin Zimmermann geht zum Bücherregal und zieht Bücher mit dem Titel «Der verlorene Zwilling» oder «Das Drama im Mutterleib» heraus. Andererseits spürte sie auch grosse Vorfreude, wenn sich die Kleine im Bauch bewegte und genoss das Schwangersein.

Laila gehört dazu

Die frisch gebackenen Eltern banden an Merjas Geburtsanzeige Lailas Traueranzeige – das Wunder des Lebens eng an den Tod geknüpft. Sieben Wochen nach der Geburt feierten sie mit Familie und Freunden ein Abschiedsritual auf einer Wiese im Friedhof Nordheim mit Zeichnungen auf Lailas Sarg, Blumen, einem Kuchen. Ein Fotograf von Herzensbilder hielt den Anlass fest und machte daraus eine Diaschau. Zimmermann holt ihren Laptop und zeigt den berührenden Film. Merja kommt dazu. Die Mutter sagt: «Gell, du weisst auch, wer Laila ist.» Deren Asche bewahrt die Familie in einer Holzkugel auf der Wohnzimmerkommode auf.

Karin Zimmermann hat nach einer Pause von elf Monaten wieder mit Arbeiten begonnen. In der Betreuung ihrer Tochter wechselt sie sich mit ihrem Partner ab.

Die Trauer um Laila habe sie sensibler gemacht für die Arbeit mit schwerkranken Menschen und ihren Angehörigen. «Ich habe erkannt, wie wichtig und individuell die Trauerarbeit ist, und wie viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit Trauernden benötigt wird.» Man müsse ihnen den Raum und die Zeit lassen, die sie brauchen. Karin Zimmermann erfuhr am eigenen Leib, wie wohltuend Rituale jeglicher Couleur sein können.

Die Bücher stellt Zimmermann wieder ins Regal. Sie ist inzwischen davon überzeugt, dass ihre lebendige Tochter keinen Schaden genommen hat, so gut wie sie sich entwickle. Ihnen allen gehe es heute sehr gut, sagt die junge Mutter. Sie würden das Familienleben geniessen. «Laila bleibt ein fester Bestandteil unserer Familie, steht aber nicht mehr im Vordergrund.»

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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