«Wir Hausärzte sind eigentlich alle Palliativmediziner»

02.02.18

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«Dem sterbenden Menschen auf allen Ebenen gerecht werden»: Hausarzt Erich Villiger in Ottenbach (Bild: zVg).

Erich Villiger, Hausarzt in Ottenbach, hat sich fast ganz den unheilbaren und chronischen Krankheiten verschrieben. Bei der Betreuung von Palliativpatientinnen und -patienten arbeitet er eng mit dem mobilen spezialisierten Palliative-Care-Team Onko Plus zusammen.

Wie häufig sterben Ihre Patientinnen und Patienten zu Hause?

Von denen, bei denen es primär um eine palliativmedizinische Behandlung geht, sterben gut 20 Prozent in den eigenen vier Wänden. Ich bin ja auch Geriater, vor allem in meiner Praxis tätig sowie bei den Menschen zu Hause, im Alters- oder im Pflegeheim. Mein Ziel ist es, dem sterbenden Menschen auf der körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Ebene gerecht zu werden, und neben dem Patienten auch die Familie in dieser schwierigen Phase zu begleiten.

Wie häufig werden sie als Hausarzt in Palliativsettings zu Hause oder im Pflegeheim einbezogen?

Im Schnitt betreut ein normaler Hausarzt um die drei Palliativpatientinnen oder -patienten. Ich betreue momentan ein Dutzend. In unserer Gruppenpraxis mit drei Allgemeinmedizinern übernehme ich fast alle Palliativpatientinnen und -patienten. Ich besuche sie auch im Pflegeheim – das ist auch so etwas, das seltener wird: es machen zunehmend weniger Hausärztinnen und -ärzte Hausbesuche im Pflegeheim.

Wie gelangen die Palliativpatientinnen und -patienten zu Ihnen?

Einige von ihnen sind schon lange bei uns in Behandlung, die Begleitung am Lebensende ist nur die Konsequenz aus der bisherigen Begleitung. In den letzten Jahren hatten wir aber zunehmend mit Patienten zu tun, welche wegen Krebs ausschliesslich in Spitälern behandelt wurden. Aufgrund der Wohnortsnähe übernehmen wir Hausärzte dann ihre Betreuung bei zunehmender Verschlechterung des Allgemeinzustandes.

 «In kaum einer anderen medizinischen Situation lerne ich als Arzt die Menschen besser kennen wie am Lebensende.»

Weshalb gefällt Ihnen die Palliativmedizin?

Die Begleitung eines Menschen und der Familie in der Palliativsituation ist sehr komplex und erfordert neben dem medizinischen Wissen hohe Ansprüche an Kommunikation mit allen Beteiligten. Es ist für alle eine Grenzerfahrung. Aufgrund dieser begegnet man dem Patienten wie auch seinen Angehörigen sehr intensiv. Ich schätze diese Art der Begegnung, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass man in kaum einer anderen medizinischen Situation die Menschen besser kennenlernt wie in dieser Phase. Hierbei erfahre ich auch viel über die Geschichte der einzelnen Menschen, was mich immer wieder fasziniert. Dieses Wissen gilt es dann in der Begleitung mit den Nahestehenden einzubringen, um die Einzelnen mit ihren eigenen Vorstellungen abzuholen und so Ruhe und Würde im Abschiedsprozess zu fördern und Ängste zu nehmen.

Sie arbeiten regelmässig mit Onko Plus, einem mobilen spezialisierten Palliative-Care-Team, zusammen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Sobald ich den Bedarf nach engmaschigerer Betreuung sehe, beziehe ich das Knowhow von Onko Plus mit ein. Ganz nach dem Credo: Alles ist gut, was dem System Sicherheit gibt. Man muss das Betreuungsnetz möglichst eng machen. Ich kann das nicht alleine und spreche mich mit Olaf Schulz ab, dem Onko-Plus-Mitarbeiter im Knonaueramt. Wir legen die Intervalle fest, in denen wir bei einem Patienten, einer Patientin vorbeigehen. Im Übrigen ist Herr Schulz in der Palliative Care besser geschult als ich. Er verfügt durch seine ausschliessliche Tätigkeit darin über ein höheres Fachwissen und ist in gewissen administrativen Dingen deutlich effizienter wie ich. So erstellt er zum Beispiel einen Massnahmenplan viel schneller und hat auch mehr Zeit, um alle Beteiligten zum Beispiel für ein Rundtischgespräch zu organisieren. Den Massnahmenplan prüfe ich natürlich, ergänze ihn bei Bedarf, bringe meine Ideen mit ein, stelle Rückfragen und unterzeichne ihn. So spare ich Zeit – auch wenn ich als Arzt sehr engagiert bin, spielt der Zeitfaktor natürlich eine Rolle.

 «Es gibt Hausärzte, welche die Grenze ihres eigenen Fachwissens in dieser Situation nicht korrekt einschätzen, da sie teilweise ihre blinden Flecken gar nicht kennen.»

Die Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen und -ärzten ist für die spezialisierten Teams nicht immer einfach. Weshalb ist das so?

Ich sehe verschiedene Gründe: Ein grosser Faktor ist die Zeit. Darüber hinaus habe ich während meiner Zeit auf der Palliativstationen unterschiedliche Erfahrungen gemacht bezüglich des spezifischen Knowhows: Es gibt Hausärzte, welche die Grenze ihres eigenen Fachwissens in dieser Situation nicht korrekt einschätzen, da sie teilweise ihre blinden Flecken gar nicht kennen. Gleichzeitig ist es ja ihr Patient, welchen sie seit Jahren begleitet haben. Aufgrund dessen können sie ihn nicht loslassen und einen Teil der Verantwortung abgeben. Für mich ist es eine Erleichterung, wenn ich zugeben kann, dass ich zum Beispiel fünf Mal länger benötige als Olaf Schulz, um die Dosierung eines Schmerzmittels zu berechnen. In der Palliative Care spielt der Teamgedanke eine grosse Rolle. Ein weiterer, wichtiger Grund: Die Kommunikation ist essenziell. Wir senden in einer palliativen Situation manchmal täglich Mails hin und her, damit alle, die gemeinsam einen Patienten betreuen, auf dem gleichen Wissensstand sind. Hat nun eine Hausarztpraxis noch nicht auf elektronische Patient_innendossiers umgestellt, ist es zu aufwändig, die handschriftlichen Einträge abzutippen, und den Partnern im Betreuungsteam zu mailen. Dabei genügen auch drei Stichworte nicht, sondern es ist wichtig, genauer zu sein. Man muss etwa die Frage beleuchten, wie weit jemand schon ist im Sterbeprozess – auch mental.

Gibt es noch andere Gründe?

Viele Allgemeinpraktiker sind im Umgang mit starken Schmerzmitteln, wie zum Beispiel Opiaten, unsicher oder haben sogar Angst davor. Das muss sich unbedingt ändern, denn grundsätzlich sind wir Hausärzte doch alle Palliativmediziner, weil wir nur wenige Krankheiten heilen können. Zudem bin ich auch der Meinung, dass jeder Hausarzt profitieren würde, wenn er schon einmal in der Geriatrie gearbeitet hätte. Natürlich haben wir im Rahmen der Fachausbildung als Allgemeinmediziner, die im Minimum fünf Jahre dauert, mit Sterbenden zu tun, doch ist die Auseinandersetzung mit einem Palliativpatienten viel komplexer. Sie benötigt neben dem medizinischen Wissen ganz andere Denkraster, welche vor allem in der Geriatrie gelehrt werden. Ein Grossteil der chronischen Patienten sind auch geriatrische Patienten. Das Fachgebiet, das wir Hausärzte abdecken müssen, ist so riesig – das können wir gar nicht alles wissen. Nachfragen kostet aber Zeit, und Zeit wird zunehmend knapper bei der Abnahme an Hausärzten. Wenn ich nicht weiter weiss, frage ich bei Palliativmedizinern nach wie Roland Kunz, Daniel Büche oder auch mal beim Ethiker Georg Bosshard, Spezialist in der Langzeitpflege.

«Als Hausarzt über onkologische Patienten nur noch zu erfahren, dass man nichts mehr machen kann medizinisch, wäre für mich sehr unbefriedigend.»

Eine andere These für die ablehnende Haltung von Hausärztinnen und -ärzten lautet, dass sie für lange Zeit aus dem Betreuungsprozess ausgeschlossen werden: Wenn ein Mensch eine gravierende Erkrankung hat, geht er zum Spezialisten, und der Hausarzt bleibt aussen vor.

Wir sind hier auf dem Land, das gilt für uns nicht. Für kleinere Leiden oder Nebenwirkungen, welche während der Therapie auftreten, kommen zum Bespiel onkologische Patientinnen und Patienten immer noch zu uns. Im Übrigen erlaube ich mir, diese ab und an zu mir zu bestellen um über den aktuellen Verlauf auf dem Laufenden zu sein, und ich bin im engen Austausch mit den Spezialisten. Sonst werden wir Hausärztinnen und -ärzte nur noch darüber informiert, wenn Behandlungen, etwa Chemotherapien, vorbei sind und dass man nichts mehr machen kann medizinisch. Das wäre für mich als Hausarzt sehr unbefriedigend und wir könnten so dem Patienten und den Angehörigen keine Kontinuität der Behandlung gewährleisten.

Wie könnte die spezialisierte Palliative Care Hausärztinnen und -ärzte für eine bessere Zusammenarbeit ins Boot holen?

Der Schlüssel könnte die regionale Fortbildung von Hausärztinnen und -ärzten in den sogenannten Qualitätszirkeln sein, etwa zum Thema Massnahmenpläne oder zu einzelnen Symptomen wie Fatigue, Übelkeit, Delir bei Palliativpatienten.

«Die Zeit, die wir laut neuen Tarmed-Tarifen verrechnen dürfen, reicht bei Weiten nicht aus bei teilweise sehr komplexen somatischen wie auch psychosozialen Konstellationen.»

Seit diesem Jahr gelten neue Tarmed-Tarife. Können Sie schon sagen, inwiefern sich diese auf die Betreuung von Palliativpatientinnen und -patienten auswirken?

Zurzeit kann ich hierzu nur sagen, dass man in drei Monaten nur 30 Minuten bis maximal eine Stunde verrechnen darf, um Gespräche mit Angehörigen ohne Beisein des Patienten oder um Koordinationstelefonate zu führen. Diese Zeit reicht bei Weitem nicht aus bei teilweise sehr komplexen somatischen wie auch psychosozialen Konstellationen. Eine ganzheitliche Begleitung zu gewährleisten bedingt sehr viel Arbeit in Abwesenheit des Patienten, und man benötigt rasch viel Zeit.

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