Wie Angehörige ihr Erfahrungswissen weitergeben

17.04.23

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Eine Person sitzt vor einer Kaffeetasse. Davor steht eine zweite Tasse mit einem Herz-Biskuit.

Als erste Palliative-Care-Organisation in der Schweiz lanciert Palliaviva das Peer-Projekt «Angehörige für Angehörige». Das Ziel ist unkomplizierte Unterstützung auf Augenhöhe.

«Was machen Sie, wenn Sie von der eigenen Geschichte eingeholt werden und die Emotionen hochkommen?», fragt Beatrice Conrad in die Runde. Die Coachin, Organisationsberaterin und Supervisorin leitet einen Workshop für Palliaviva. Zur Teilnahme eingeladen wurde eine kleine Gruppe von Angehörigen. Sie alle haben in den letzten Jahren ihre Partnerin oder ihren Partner verloren.

Vier Frauen und ein Mann sind dabei und stellen ab sofort anderen Angehörigen ihr Erfahrungswissen zur Verfügung. Dafür sieht Palliaviva einen grossen Bedarf: Das Team begegnet immer wieder Personen im Umfeld von schwerkranken Menschen, die sich gerne mit jemandem austauschen würden. Nicht mit einer Fachperson, sondern mit jemandem, der etwas Ähnliches erlebt hat. Möglich gemacht wird dieses neue Angebot von Palliaviva durch Spenden.

Konkrete Anregungen für den Austausch

Im Workshop mit Beatrice Conrad sinnieren die Teilnehmenden einige Zeit über die Frage der Coachin. Eine der Anwesenden hat für sich eine Antwort gefunden: «Wenn mich Gefühle überwältigen, versuche ich, eine kurze Gesprächspause einzulegen, um mich wieder zu sammeln», sagt sie. Ein anderer Vorschlag lautet: «Ich kann mir vorstellen, dass ich die Emotionen zulasse und ein wenig von meiner Geschichte erzähle.»

Beatrice Conrad nickt, gibt jedoch zu bedenken, dass der Exkurs in die eigene Geschichte nicht zu lange dauern dürfe. «Nach spätestens vier Minuten sollte der Fokus wieder aufs Gegenüber gerichtet sein», erklärt sie. Die vier Minuten seien als Faustregel zu verstehen. Das Risiko bestehe sonst, dass es zu einer Rollenumkehr komme. Der begleitende Angehörige könnte sonst also plötzlich als Trostsuchender dastehen. Das soll nicht passieren.

Am ersten Einführungstag, den Palliaviva Ende März organisiert hat, wurde neben den Rollen der begleitenden und der begleiteten Angehörigen auch viel Wissen über Kommunikation vermittelt: Wie verhindert man Interpretationen? Was bedeutet aktives Zuhören? Und was tue ich, wenn die Chemie zwischen mir und meinem Gesprächspartner nicht stimmt? Wie äussere ich meine Zweifel in dieser delikaten Situation?

Beatrice Conrad gibt konkrete Ratschläge und nimmt den Anwesenden allfällige Ängste. Wenn im Gespräch eine Irritation auftrete, soll man ruhig direkt danach fragen, empfiehlt sie zum Beispiel. So könne man vermeiden, ein Verhalten oder eine Aussage falsch zu interpretieren.

«In der Palliaviva-DNA verankert»

Warum hat sich Palliaviva entschieden, ein Angebot von Angehörigen für Angehörige aufzubauen? Geschäftsleiterin Ilona Schmidt erklärt: «Das Bewusstsein, dass schwerkranke Menschen in ein Beziehungsnetz eingebunden sind, ist tief in der Palliaviva-DNA verankert.» Entsprechend messe man den Angehörigen im Alltag eine grosse Bedeutung bei und beziehe sie in die Pflegeprozesse mit ein. «Die Realisierung dieses Projektes ist ein Meilenstein in der Geschichte unserer Organisation.»

Umgesetzt wurde das Pilotprojekt von der Fachgruppe «Angehörige und Rituale», das heisst von den Palliaviva-Mitarbeiterinnen Corinne Irniger, Ankie van Es, Liselotte Vogt und Rose Marij Wijnands. Sie informierten sich bei anderen Organisationen, die ähnliche Projekte bereits kennen (siehe weiter unten), und erarbeiteten das Detailkonzept.

Die Fachgruppe ist sich einig: «Wir wissen aus unserem Alltag, wie wichtig es ist, dass es auch den Angehörigen gut geht. Wenn es ihnen schlecht geht, ist es auch für die Patientinnen und Patienten schwierig, zu Hause zu bleiben.» Und das sei schliesslich das Ziel vieler Betroffener. «Wir möchten darum neue Wege gehen, wie wir auch die Angehörigen unterstützen können.»

Persönliche Vermittlung durch Palliaviva

Die ersten Angehörigen im Projekt wurden direkt von den Palliaviva-Pflegefachleuten angesprochen und gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, andere Menschen zu begleiten. Die Unterstützung leisten sie ehrenamtlich; bezahlt werden Reisespesen, es gibt regelmässige Weiterbildungstage, Supervisionen und jährlich einen gemeinsamen Ausflug. Die Vermittlung mit Angehörigen, die eine Begleitung wünschen, erfolgt ebenfalls über den persönlichen Kontakt mit dem Palliaviva-Team.

Bis im Frühling 2024 läuft das Projekt «Angehörige für Angehörige» als Pilotversuch. Teil des Projektes ist ein regelmässiger Austausch zwischen den Beteiligten und der Fachgruppe. Mithilfe von standardisierten Gesprächsprotokollen werden die Erfahrungen ausgewertet. Bei allfälligen Schwierigkeiten oder Missverständnissen werden Corinne Irniger, Liselotte Vogt, Ankie van Es und Rose Marij Wijnands eine vermittelnde Funktion übernehmen.

Im Konzept klar festgehalten sind folgende Punkte: Bei den Freiwilligen liegt der Tod «ihres» Patienten oder «ihrer» Patientin idealerweise mindestens ein Jahr zurück. Sie übernehmen in der Begleitung keine Betreuung der kranken Person. Sie sind nur für die pflegenden Angehörigen da, stehen jedoch nicht rund um die Uhr zur Verfügung.

Wie oft Kontakte stattfinden und ob diese über persönliche Treffen, einen Whatsapp-Chat oder Telefonanrufe organisiert werden, wird individuell abgemacht. Der nicht-professionelle Austausch kann flexibel gestaltet werden und soll unterstützend und entlastend wirken.

Ein Steinchen in der Hosentasche

Was sind die Motivationen der Freiwilligen in der Gruppe am Einführungstag von Palliaviva? Mirjam Heilmann ist eine der begleitenden Angehörigen. Ihre Partnerin starb vor drei Jahren. Sie sagt, sie teile gerne ihre Erfahrung und möchte ein offenes Ohr haben für jemanden, der in einer ähnlichen Situation sei, wie sie gewesen sei. «Ausserdem möchte ich Palliaviva gern etwas zurückgeben. Ich habe viel mehr als Pflegerisches geschenkt bekommen. Meine Dankbarkeit kann ich nun in dieser Form ausdrücken.»

Auch Markus Brühwiler begleitete seine Frau bis zum Tod. Der Pensionierte sagt pragmatisch, er habe genug Zeit, um seine Erfahrungen weiterzugeben, wenn diese gefragt seien. Es sei ihm ein Anliegen, Menschen zu unterstützen, die in einer schwierigen Lebenslage seien. «Palliativsituationen sind etwas Eindrückliches.»

Der ersten Begleitung sehen alle mit freudiger Spannung entgegen. Die Frage, wie sie sich selbst helfen, wenn sie von Emotionen überwältigt werden, muss jede und jeder für sich selbst beantworten. Coachin Beatrice Conrad gibt in der Einführung ein paar Ideen für aufwühlende Gesprächssituationen weiter. Eine davon ist, einen kleinen Stein in der Hosentasche mitzutragen und diesen bewusst zu berühren. Das kann helfen, wieder Halt zu finden und sich nicht in Gefühlen zu verlieren.

Diese Erfahrungen machen andere Organisationen

Peer-Projekte kennt man vor allem aus der Psychiatrie und aus der Suchthilfe. Als Peer Counselling wird eine spezielle Form der Beratung bezeichnet, bei der Betroffene durch Betroffene beraten werden. Mehr und mehr etablieren sich entsprechende Projekte auch in anderen Bereichen. So hat die Krebsliga Schweiz im letzten Herbst eine Peer-Plattform für Krebspatientinnen, Krebspatienten und Angehörige aufgeschaltet.

Am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil (LU) gibt es das Peer Counselling seit 2008. Die Peer-Arbeit am SPZ wurde in den letzten 15 Jahren weiter ausgebaut und professionalisiert. Heute umfasst das Team der fest angestellten Peers 11 Mitarbeitende. Ergänzt wird dieses durch eine Volunteer-Peergruppe (Freiwillige).

In beiden Teams hat es sowohl Betroffene als auch betroffene Angehörige. Danielle Pfammatter, die Leiterin Peer & Angehörigensupport des SPZ, sagt: «Eine sorgfältige Rekrutierung ist sehr wichtig. Die Begleitenden sollten einen gesunden Abstand zur eigenen Geschichte haben. Zum einen, um der Aufgabe gerecht werden zu können, aber auch, damit sie selbst nicht erneut in einen emotionalen Abwärtsstrudel gezogen werden.»

Es finden in beiden Teams jährlich interne Fortbildungen im Bereich Kommunikation und Beratung statt. Zudem gibt es bei Bedarf Intervisionen sowie monatliche Sitzungen in den Peer-Teams. «Mit den jährlich stattfindenden Standort- und Mitarbeitendengesprächen überprüfen wir auch die Motivation und Befindlichkeit unserer Peers», erklärt Danielle Pfammatter.

Die Krebsliga Schweiz hat die Online-Plattform, auf der Interessierte nach Peers suchen können, eigens für diesen Zweck aufgebaut. Die Freiwilligen werden auf der Basis eines Interviews rekrutiert und präsentieren sich mit einem Kurzporträt. Es handelt sich um Betroffene, die selbst vor längerer Zeit die Diagnose Krebs erhalten haben oder um Angehörige. Zuständig für die Plattform ist Erika Gardi, Leiterin Fachsupport Angebote, die auch die persönliche Ansprechperson für alle Anliegen der Beteiligten ist. Sie wird nach einem Jahr Laufzeit, Ende 2024, das Projekt aufgrund von Umfragen bei Peers und Kontaktsuchenden evaluieren. Geplant sind auch Online-Treffen mit allen Peers, um den Austausch miteinander und gemeinsames Lernen zu ermöglichen.

«Unsere ersten Erfahrungen sind erfreulich», sagt Erika Gardi. Auch die Rückmeldungen der Peers seien sehr positiv: «Die Gespräche, die sie führen, sind auch für sie bereichernd. Sie können anderen Menschen, die sich gerade in einer sehr schwierigen Situation befinden, durch ihre Lebenserfahrung ein Stück weiterhelfen.»

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