«Wenn ich an meinen Vater denke, empfinde ich eine Art Glücks-Trauer»

19.12.23

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Portrait der Schweizer Schriftstellerin Romana Ganzoni, fotografiert von Mayk Wendt.

(Foto: Mayk Wendt)

Die Schweizer Schriftstellerin Romana Ganzoni hat ein besonderes Verhältnis zum Tod. Als sie 26 Jahre alt war, starb ihr Vater innerhalb von zweieinhalb Monaten nach der Krebsdiagnose. Heute ist sie mit diesem Verlust ein Stück weit versöhnt.

Romana Ganzoni ist 56-jährig und damit drei Jahre älter, als ihr Vater war, als er starb. Der Vater, Roman Flütsch, wurde im Alter von 53 Jahren mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert. Der Krebs hatte bereits einen Ableger im Kopf gebildet. Eine Operation war nicht mehr möglich, weil die Erkrankung schon sehr weit fortgeschritten war.

Die Schriftstellerin und Autorin mehrerer erfolgreicher Romane lebt mit ihrer Familie im Engadin. Die kurze Zeit der Krankheit, den Tod ihres Vaters und die Trauer darüber hat Romana Ganzoni als traumatisch in Erinnerung. Besonders die Hilflosigkeit des Todkranken, gepaart mit ihrer eigenen Ohnmacht, trafen sie tief. «Ich erinnere mich, dass mein Vater zuoberst im Spital, in einem abgelegenen Zimmer lag.» Im Rückblick komme ihr das vor wie ein Albtraum.

Ein dramatischer Verlauf

Ihr Vater und sie seien sich nach der Diagnose zwar rasch einig gewesen, dass eine Chemotherapie nicht mehr sinnvoll sei. «Er wurde noch bestrahlt, obwohl klar war, dass auch das nichts mehr bringt.» Sie vermisste in dieser traurigen Zeit Empathie von Seiten der Ärzteschaft, von der sie nur in der männlichen Form spricht. Ärztinnen gab es im Kantonsspital in Chur offenbar wenige, oder jedenfalls keine, die in die Betreuung ihres Vaters involviert waren.

Die damals 26-jährige Romana Ganzoni nahm den rasanten Verlauf der Erkrankung als dramatisch und den Umgang der Mediziner mit ihrem Vater als kalt und distanziert wahr. «Mir schien, als seien plötzlich alle verschwunden, als feststand, dass er stirbt», sagt sie im Rückblick. Sie fühlte sich mit ihrem todkranken Vater allein gelassen. Ihre Mutter habe sich derweil zu Hause um alles gekümmert, vor allem, als der Vater zwischen zwei Spitalaufenthalten für einige Wochen heimgekehrt sei.

Die Sprache habe er zunehmend verloren, eine Kommunikation mit ihm sei gegen das Ende nur noch schwer möglich gewesen. Und der Vater habe als Folge der Hirnmetastase auch zunehmend den Kopf, also seine kognitiven Fähigkeiten, verloren. Einmal habe er in ein «Mödeli» Butter gebissen, weil er nicht mehr gewusst habe, was er damit anfangen sollte.

«Palliativ» ­– damals ein Fremdwort

Das Wort «palliativ» sei damals, im Jahr 1994, ein einziges Mal gefallen, im Gespräch mit zwei Ärzten, und sie habe daraufhin den Fremdwörterduden konsultiert. Dies sei das erste Mal gewesen, dass sie den Begriff gehört habe. «Die Leute, die den Begriff brauchten, versteckten sich dahinter.» Mit dem Wort habe sie von da an folgende Botschaft verbunden: «Man kann nichts mehr machen, man kann nur noch Schmerzmittel geben.»

Ein Austausch über das Unabwendbare, der vielleicht auch tröstend gewesen wäre, fand mit den Ärzten nicht statt. Auch eine gesamtheitliche Begleitung im Sinne der heutigen Palliative Care, die auch Angehörige einbezieht, gab es nicht. Sie selber sprach mit dem Vater hingegen über den Tod. «Wir haben über alle wichtigen Themen geredet.» Sie seien ehrlich zueinander gewesen, zuweilen auch hart. «Ich sagte zu ihm: ‹Ja, Du stirbst.› Ich mag klare Worte, und wenn es bei mir einmal soweit ist, möchte ich auch, dass man so mit mir spricht.»

In einem literarischen Text, den sie für eine Ausstellung im Friedhof Forum der Stadt Zürich verfasste, schrieb Romana Ganzoni: «Der erste Tote, den ich sah, war mein Vater.» In der Erzählung bezieht sie sich auf den Aspekt der Verarbeitung, den das Schreiben für sie hatte und immer noch hat:

«In meinem Buch Magdalenas Sünde habe ich diese Erfahrung mit den Bedürfnissen der Geschichte verwoben. Viel mehr kann ich nicht sagen zum Sterben meines Vaters. Nur, dass wir beide gegen eine Chemotherapie waren, dass ich hinter ihm stand, als Herr Schöni, der Dorfcoiffeur, zu uns nach Hause kam, um ihm die in kürzester Zeit weiss gewordenen Haare abzuschneiden, ich hob ein Büschel auf, wickelte es in ein Stofftaschentuch, legte die Haare später weg, mein Vater wollte bestimmt nicht zu einer Reliquiensammlung werden. (…) Das kann ich sagen. Und wie er eines Morgens in der leeren Badewanne sass. Wie er in Rekordzeit von einem Modellathleten zu einem Wrack wurde mit aufgedunsenem Bauch.»

Eine sehr persönliche Geschichte

Romana Ganzoni ist eine der treuesten Followerinnen von Palliaviva in den sozialen Medien, die sich immer wieder mit zustimmenden Likes und Herzchen zu erkennen gibt. Im Gespräch unterstreicht sie, wie wichtig die Palliative Care sei. Ihr Vater, ihre Mutter und sie hätten 1994 im Kanton Graubünden nicht davon profitieren können. Das sei ihr heute Motivation, sich für dieses Angebot zu engagieren: «Wegen meiner Geschichte ist mir Palliativmedizin sehr wichtig.»

Fast dreissig Jahre, nachdem ihr Vater gestorben ist, scheint Romana Ganzoni mit dem, was sie erlebt hat, ihren Frieden gefunden zu haben. Die tiefe Trauer, die sie nach dem Tod etwa ein Jahr lang in eine Art Depression stürzte, ist etwas anderem gewichen. Heute hält sie fest: «Wenn ich an meinen Vater denke, empfinde ich eine Art Glücks-Trauer.» Glück über die liebevolle Beziehung, die sie und ihr Vater hatten. Trauer über den schwerwiegenden Verlust schwingt weiterhin mit.

Mehr von Romana Ganzoni gibt es hier als Podcast zu hören.

Bücher von Romana Ganzoni:

  • Tod in Genua, Edition Blau – Belletristik im Rotpunktverlag, ISBN 978-3-85869-843-8
  • Magdalenas Sünde, Diogenes, ISBN 978-3-257-24656-8

(Foto: Mayk Wendt)

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