Sie möchte noch ein bisschen leben

22.11.18

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Ursula H. ist schwächer geworden. Ihr Allgemeinzustand ist jedoch immer noch erstaunlich gut für den Grad ihrer Erkrankung. Zu schaffen macht ihr die Psyche. Sie hängt noch so fest am Leben.

Von Sabine Arnold

Ursula H. hat mir vor meinen Ferien gesagt: «Bring mir das Meer mit!» Sie hat mir vor ein paar Wochen das Du angeboten. Und so haben mein Sohn und ich Muscheln gesammelt in der Algarve. Die schönsten durfte er in ein Konfitürenglas packen. Mit jeder Muschel, die ins Glas fiel, formulierten wir einen Wunsch für Ursula. «Dass sie wieder gesund wird», sagt der Vierjährige. «Dass die Medizin nützt.» Ich sage: «Dass sie noch viel Schönes erlebt.»

Sie wird nicht wieder gesund, sie ist sterbenskrank. Und doch lebt sie schon drei Monate länger, als ihr prophezeit wurde. Als ich ihr das Konfitürenglas vorbeibringe, sagt sie, die Ungewissheit mache ihr am meisten zu schaffen. «Dass ich nicht weiss, wann es so weit ist.» Sie weine viel in letzter Zeit. Sie trauert um ihr Leben, an dem sie noch so stark hängt.

«Wenn ich dann tot bin, kann ich meinem Mann auch nicht mehr reinreden.» Ursula H., Palliativpatientin

Eigentlich sieht sie immer noch gut aus, ein bisschen blasser geworden ist sie. Jetzt sitzt sie auf dem Sofa, neben sich das Konfitürenglas. Sie sei viel schwächer geworden, sagt sie, möge kaum noch aus dem Haus gehen. Weil sie mehrmals gestürzt ist, hat sie sich kurzerhand im Aldi einen Rollator gekauft. So kann sie abends wenigstens noch einen kurzen Spaziergang machen mit ihrem Mann.

Ihm versucht sie immer mehr zu übertragen, nicht mehr alles zu kontrollieren. «Wenn ich dann tot bin, kann ich ihm auch nicht mehr reinreden» – ihren trockenen Humor hat sie bewahrt. Sie sei immer die treibende Kraft in dieser Beziehung gewesen, sagt sie. Man kann es sich gut vorstellen. Seit 42 Jahren sind die beiden ein Paar, kürzlich haben sie den 41. Hochzeitstag gefeiert. Es bricht ihr das Herz, dass sie ihn zurücklassen muss.

Ursula spricht auch über ihre beiden Kinder. Klar, diese bräuchten sie nicht mehr, seien erwachsen, erfolgreich. «Ich weiss, dass ich stolz auf sie sein kann und zufrieden. Dennoch möchte ich noch ein bisschen leben.» Immer wieder sagt sie diesen Satz. Sie möchte noch ein bisschen leben.

Schlaf als Bewältigungsstrategie

Aber wofür leben? Sie zuckt mit den Schultern. Der grösste Wunsch der Weitgereisten wäre, einmal noch nach Japan zu reisen. Sie hat diesen Plan aber als unrealistisch verworfen. Kleine Ziele, zum Beispiel noch einmal Weihnachten zu erleben, setzt sie sich kaum mehr. Sie ist zu traurig, zu deprimiert. Ihr Psychiater hat ihr ein neues Medikament verschrieben.

Ursula schläft viel. Schlafen ist eine ihrer Bewältigungsstrategien. Mit den vielen Medikamenten, die sie nimmt, schlafe sie gut. Spätestens um 23 Uhr ist sie im Bett, und ihr Mann muss sie mittags wecken, wenn sie am Nachmittag einen Termin hat.

Ursula hat viele Termine, fühlt sich verplant: Einmal wöchentlich sieht sie ihren Psychiater, einmal eine Pflegende sowie ab und an die Konsiliarärztin von Onko Plus, neuerdings kommt einmal pro Woche eine Haushaltshilfe der Spitex zum Putzen. «Ich verliere langsam die Übersicht», sagt sie. Es seien ihr fast zu viele Leute.

«Ich habe nicht das Gefühl, dass ich bald sterbe. Gleichzeitig spüre ich, dass der Krebs weiterwächst.»

Ursula zieht sich zurück, «wie eine Katze, der es nicht gut geht», sagt sie selbst. Sie liest immer noch gerne, auch wenn sie manchmal Mühe hat, sich zu konzentrieren. Sie liebt Einzelschicksale. Weil das Leben anderer Menschen sie interessiere, sagt sie. «Was Menschen alles durchmachen, ist fast nicht zu glauben. Es tröstet mich, wenn es mir noch besser geht.»

Ihr Zustand sei ja nicht so schlecht, wägt sie ab, die Schmerzen seien mit Pflaster und Tabletten im Griff. «Ich habe nicht das Gefühl, dass ich bald sterbe. Gleichzeitig spüre ich, dass der Krebs weiterwächst.» Die Schmerzen würden stärker, und sie werde schwächer. Seit Kurzem zittern ihre Hände. Die Psyche komme dem körperlichen Abbau kaum hinterher. «Ich will nicht sterben, aber kämpfen mag ich eigentlich auch nicht mehr. Ich werde den Tod akzeptieren – aber noch nicht grad jetzt.»

Als ich mich von Ursula verabschiede, fühle ich mich machtlos. Ich würde ihr gerne Hoffnung geben, aber das gelingt mir nicht. Am Abend schreibt sie mir eine WhatsApp-Nachricht: «Es war schön, dass du mich besucht hast. Ich fühle mich immer wohl in deiner Gegenwart. Heute war nicht so mein Tag, aber du hast mich aufgefangen. Ich danke dir dafür. Komm bald wieder!»

Liebe Ursula, das verspreche ich dir, und ich hoffe, dass du das Leben noch ein bisschen geniessen kannst.

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