«Pflegende Angehörige begleiten bis zum Schluss»

14.07.21

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Angehörige leisten Unermessliches bei der Pflege und Betreuung von schwerkranken Menschen in den eigenen vier Wänden. Ohne sie ist das Zuhausebleiben nur schwer möglich oder teuer. Eine Angehörige, eine Pflegefachfrau und eine Politikerin diskutieren über die Bedeutung der nicht-professionellen Grundpflege.

Zwar begleiten Angehörige schwerkranke Patienten oder Patienten häufig zu Arztbesuchen oder Untersuchungen im Spital. Sie werden jedoch selten gefragt, wie es ihnen bei all dem geht. Weshalb gehen die Angehörigen im Gesundheitssystem vergessen?

Dorothea Frei*: Weshalb man als Angehörige nicht zur Kenntnis genommen wird, verstehe ich auch nicht. Eine meiner Freundinnen war Chefin der Rettungssanität, die zum Spital gehörte, in dem wir beide unsere Ausbildung gemacht hatten. Ich pflegte sie in ihrer letzten Lebensphase. Als sie starb, kondolierte niemand vom Personal, weder ihrem Mann noch mir. Dasselbe bei meinem Vater: Weder seine Partnerin noch ich, die ihn begleitete, wurden je nach unserem Wohlergehen gefragt.

Liselotte Vogt: Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen den Institutionen, der Pflege im Spital und zu Hause. Daheim sind die Angehörigen präsenter. Die Spitex interessiert sich häufiger für sie. Wie haben Sie das erlebt, Susanne Jaberg-Tchatchou?

Susanne Jaberg-Tchatchou: Ich muss vorausschicken, dass es vor allem mein Vater war, der sich um meine Mutter gekümmert hat. Einige haben sich um uns Angehörige gesorgt, andere nicht. Beide, sowohl mein Vater als auch meine Mutter, haben sich ziemlich abgekapselt und erst ganz zum Schluss Hilfe angenommen.

Weshalb rief Ihr Vater nicht früher um Hilfe?

SJT: Meine Mutter war schon lange chronisch krank. Mein Vater wuchs über die Jahre in die Pflege hinein. Als es aufs Ende zuging, fanden wir Töchter, meine Eltern sollten professionelle Unterstützung erhalten, auch in der Nacht. Mein Vater zögerte, weil er Angst vor finanziellen Folgen hatte und meiner Schwester und mir nicht zur Last fallen wollte.

Was hätten Sie sich rückblickend gewünscht?

SJT: Entlastung, Sicherheit. Ein früherer Einbezug von Palliaviva hätte Druck genommen, auch von uns. Ich erwartete täglich den Anruf, dass etwas Schlimmes passiert ist.

Weshalb sind die Angehörigen in der Palliative Care wichtig, Liselotte Vogt?

LV: Weil sie zum System des Patienten gehören. Sie kennen seine Vorlieben und Schwächen genau.

Üben sie auch eine positive Wirkung auf die Patientinnen und Patienten aus?

LV: Ja, natürlich. Wir merken zum Beispiel, dass sich ein unruhiger Patient beruhigt, wenn sich seine Frau neben das Bett setzt.

Welche Aufgaben nehmen pflegende Angehörige ausserdem wahr?

LV: Sie involvieren sich voll in die Pflege. Häufig wollen sie, dass man ihnen konkrete Aufgaben überträgt. Sie wollen mitwirken, den Menschen begleiten können, der danach nicht mehr da ist.

Hat dieses Machenwollen auch mit Verarbeitung zu tun?

LV: Ja, denn im Handeln geht es uns besser. Wenn der Angehörige etwas tun kann, kann er den körperlichen und seelischen Schmerz in den Hintergrund schieben. Zudem hilft ihm die Erfahrung, dass er helfen konnte, auch in der Trauerphase. Er hat gemacht, was möglich war.

Die Belastungsgrenzen der Angehörigen sind individuell, auch wann sie diese erkennen.» Liselotte Vogt, Pflegefachfrau bei Palliaviva

Häufig können schwerkranke Menschen nur wegen ihrer Angehörigen zu Hause bleiben. Alleinstehenden ist dies nicht ohne Weiteres vergönnt.

LV: Ja, das stimmt. Ich hatte kürzlich mit einer Patientin zu tun, die niemanden hatte ausser zwei Enkelinnen. Ihr blieb nichts anderes übrig als am Lebensende ins Spital einzutreten, da sie keine 24-Stunden-Betreuung zu Hause wollte.

Wo liegen die Belastungsgrenzen der Angehörigen?

LV: Das ist individuell, wie auch das Erkennen der Grenzen. Die Ehefrau eines Patienten, den Orbetan zwei Nächte pro Woche betreut, schläft maximal 4.5 Stunden pro Nacht. Das ist wenig und auf die Länge wohl kaum auszuhalten. Das ist aber ihre Sache. Ich würde ihr nie Grenzen aufzwingen.

DF: Die Grenze liegt für mich auch dort, wo ich nicht mehr schlafen kann. Die Betreuung meiner Mutter lag zeitweise bei mir, weil meine Schwester, ebenfalls Pflegefachfrau, eine Grippe hatte. Und 24 Stunden die Betreuung zu gewährleisten wird zur Grenzerfahrung.

Wie war das bei Ihnen, Susanne Jaberg-Tchatchou, konnte Ihr Vater sich auch mal ausklinken?

SJT: Er wollte das gar nicht. Er hielt viel, viel mehr aus, als er sich hätte vorstellen können. Er war tatsächlich in guten wie in schlechten Zeiten für sie da. Dass meine Eltern nicht mehr genug schliefen, merkte ich auch. Sie waren zum Teil angespannt und haben häufig gestritten.

Was waren Ihre eigenen Ressourcen?

SJT: Meine Familie, Freunde, bei denen ich abladen konnte. Meine Schwester und ich stärkten uns gegenseitig, sonst hätten wir das nicht so gut überstanden. Im Job kam mir ausserdem viel Verständnis entgegen. Ich kam nur an meine Grenzen, wenn ich beruflich auf Reisen war, und es meiner Mutter schlecht ging. So weit weg zu sein und nicht handeln zu können, hielt ich schlecht aus.

Gibt es Situationen, in denen Angehörige zu viel machen und in Bezug auf das kranke Familienmitglied Grenzen überschreiten?

LV: Ja, das gibt es auch. Das ist meist ein altes Muster und hat auch mit der überfordernden Situation zu tun. Im Stress der anfallenden Aufgaben verliert man sich und entscheidet zu viel. Für uns als Pflegeteam ist das herausfordernd, denn wir wollen nach den Wünschen der kranken Person handeln.

Professionelle Nachtwachen, wie sie Orbetan anbietet, können Angehörigen entlasten. Welche anderen Möglichkeiten gibt es?

LV: Die lokale Spitex ist meist intensiver einsetzbar, als wir wissen, bis vier Mal pro Tag zum Beispiel. Man könnte Freiwillige involvieren, damit der Angehörige einen Nachmittag frei hat. Gut ist, wenn man das früh einfädelt, damit sich Patient und Freiwillige kennenlernen. Dann gibt es auch noch private Spitex-Organisationen, die auch mehrere Stunden pro Tag vor Ort sein können. Das wiederum ist eine Kostenfrage.

Der Anteil an nicht-professioneller Grundpflege und Betreuung wird sicherlich zunehmen.» Dorothea Frei, Stiftungsrätin von Palliaviva

Dorothea Frei, welche Bedeutung haben die pflegenden Angehörigen in der gesamten Gesundheitsversorgung?

DF: Eine extrem grosse. Wie wir gehört haben, ist die Pflege von Menschen zu Hause schwierig oder teuer, wenn keine Angehörigen da sind. In einem gesellschaftlichen Kontext stellt sich die Frage, wie man die Angehörigen stützen kann. Wenn zum Beispiel jemand bereit ist, wegen der Pflege eines Familienmitglieds die Arbeitszeit zu reduzieren, wäre eine finanzielle Abgeltung wichtig.

Haben solche Überlegungen eine Chance, Wirklichkeit zu werden?

DF: In der Schweiz sind wir noch nicht so weit, in Deutschland schon, dort erhalten pflegende Angehörige ein Entgelt. Es gibt aber eine Kehrseite: Studien zufolge nimmt Gewalt gegen Pflegebedürftige zu, wenn ein externes Kontrollsystem fehlt. Die Spitex hat eine gewisse Kontrollfunktion und sieht, wenn Misshandlungen geschehen. Wenn ausschliesslich Angehörige zuständig sind, kann aus der überfordernden Situation Gewalt entstehen. Davor muss man Respekt haben.

Wie wichtig werden die pflegenden Angehörigen in Zukunft sein?

DF: Definitiv noch wichtiger. Auch wenn unsere Lebenserwartung wegen der Pandemie grad nach unten korrigiert wird: Das Missverhältnis von Menschen, die Pflegebedarf haben, und Menschen, die ihn decken könnten, nimmt zu. Das Freiwilligen- und das Angehörigen-System werden einen Teil übernehmen müssen. Der Anteil an nicht-professioneller Grundpflege und Betreuung wird also sicherlich zunehmen.

Der Moment, als meine Mutter sich mit einem Lächeln in ihrem Relax-Sessel entspannte und sich die Katze zu ihr legte, war unbezahlbar.» Susanne Jaberg-Tchatchou, Tochter einer Palliaviva-Patientin

Susanne Jaberg-Tchatchou, hatte die Begleitung Ihrer Mutter trotz aller Belastung auch eine schöne Seite?

SJT: Auf jeden Fall. Es war ihr grosser Wunsch, zu Hause zu sterben, und wir konnten sie dank Palliaviva und Spitex aus dem Pflegeheim nach Hause holen – kurz vor dem ersten Lockdown. Die Anspannung war gross, nur schon wegen der Frage, wie wir sie die Treppe hinaufbringen. Der Moment, als sie sich mit einem Lächeln in ihrem Relax-Sessel entspannte und sich die Katze zu ihr legte, war unbezahlbar. Mein Vater, meine Schwester und ich waren auch bei ihr, als sie starb. Ihr diesen Wunsch erfüllen zu können, war das Schönste am Ganzen. Das hat mich mit dem langen, schwierigen Weg versöhnt, den sie gehen musste.

Weshalb endet in der Palliative Care die Betreuung der Angehörigen nicht mit dem Tod?

LV: Erstens haben wir als Pflegende eine Beziehung zu den Angehörigen entwickelt, deshalb haben auch wir das Bedürfnis, diesen Kontakt nochmals herzustellen. Zweitens fragen wir, wie es ihnen geht. Im Vordergrund steht das Zuhören, wie sie den Sterbeprozess und das Danach erlebt haben. Es geht uns darum, Traumatisierungen zu verhindern. Die Finanzierung dieser Nachbetreuung ist aber nicht gedeckt, und wir müssen Spendengelder dafür verwenden. Deshalb gehen wir sparsam damit um.

* Zu den Personen

Liselotte Vogt: Pflegefachfrau bei Palliaviva, Geschäftsführerin der Stiftung Orbetan

Susanne Jaberg-Tchatchou: Pflegende Angehörige

Dorothea Frei: Palliaviva-Stiftungsrätin, Bildungsunternehmerin, Ex-Pflegefachfrau

Dieses Gespräch wurde für den Palliaviva-Jahresbericht 2020 geführt. Lesen Sie hier den gesamten Bericht.

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