Onko-Plus-Mitarbeiterin Amira Spahic im Porträt

20.12.17

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Amira Spahic muss manchmal zwischen den Kulturen vermitteln, wenn eine Patientin oder ein Patient aus ihrem Kulturkreis stammt. «Viele erleben ihre Krankheit ganz anders als Menschen ohne Migrations- und Kriegserfahrung», sagt sie. Hier tastet sie den Bauch einer Patientin ab (Bild Sabine Rock).

Palliativpflegefachfrau Amira Spahic ist eine Perfektionistin, die in ihrem Job etwas Heiliges sieht. Immer wieder profitiert das Team vom Wissen, das die Seconda mit Wurzeln in Bosnien-Herzegowina hat.

Als Amira Spahic an diesem Morgen mit dem Onko-Plus-Dienstwagen von Zürich nach Dübendorf fährt, überlegt sie, ob sie zu Hause den Herd abgestellt hat. Sie kochte frühmorgens Tee und füllte ihn in eine Thermoskanne, weil ihre 5-jährige Tochter mit dem Kindergarten in den Wald gegangen ist. Der 10-jährige Sohn ist in der Schule, nach Schulschluss gehen beide in den Hort. Spahics Mann ist stellvertretender Produktionsleiter eines Fassadenbauunternehmens, einen Tag pro Woche arbeitet er von zu Hause aus, um für die Kinder da zu sein. Ausserdem springen auch die Grosseltern bei der Kinderbetreuung ein.

Die 34-jährige Pflegefachfrau ist an drei Tagen pro Woche für Onko Plus unterwegs. Die Doppelbelastung, die Familie und Beruf mit sich bringen, merkt man ihr nicht an. Als Palliativpflegefachfrau unterwegs, ist sie ganz für ihre Patientinnen und Patienten da.

Gewohnt, dass man ihren Namen nicht auf Anhieb versteht

In Dübendorf läutet sie an einem Mehrfamilienhaus. Sie besucht eine Patientin und ihren Ehemann für ein sogenanntes Erstgespräch. «Wie heissen Sie? Basitsch?» Amira Spahic, die ihre Wurzeln in Bosnien hat, ist sich gewohnt, dass man ihren Namen nicht auf Anhieb versteht. Sie lächelt, wiederholt ihn geduldig und sagt: «Meinen Namen hört man halt nicht oft.»

Die lokale Spitex hat Onko Plus im Fall der 79-jährigen Patientin mit einem Lungentumor und Hirnmetastasen zur Unterstützung hinzugeholt. Die Spitex-Vertreterin sitzt ebenfalls am Tisch. «Wie geht es Ihnen?», fragt Spahic. Schon unzählige Male hat sie diese schwierigen Gespräche begonnen. Es zeigt sich bald, dass die Patientin ihre gravierende Erkrankung verharmlost. Abgesehen von massiven Rückenschmerzen fühle sich gesund, sagt sie. Spahic hört aufmerksam zu, hakt nach, spricht auch den Ehemann an. Dieser scheint froh zu sein, dass jemand von aussen seiner Frau die Krebserkrankung vergegenwärtigt.

«Es ist in einer ersten Begegnung nicht einfach zu vermitteln, was Onko Plus leiste. Wir reden ja praktisch nur.»

Nach etwa einer Stunde verlässt Spahic das Paar wieder. Die Patientin und ihr Gatte sind ermüdet von den vielen Informationen, die sie erhalten haben. Gleichzeitig hat Spahic vom Ehepaar ebenfalls viele Informationen gebraucht. Welche Probleme stehen für sie im Vordergrund? Was wünschen sie sich? Ist eine Patientenverfügung vorhanden? Ihr Ziel fürs Erstgespräch ist eigentlich bescheiden: Wichtig  sei vor allem, dass den Patienten und ihren Angehörigen die Nummer des 24-Stunden-Piketts bekannt sei, und ihnen sollte ganz klar sein, dass sie diese in einer Notsituation wählen und nicht die Ambulanz kommen lassen müssen.

Es sei in einer ersten Begegnung nicht einfach zu vermitteln, was Onko Plus leiste, sagt Spahic, die nun auf der Autobahn Richtung Embrach fährt. «Wir reden ja praktisch nur.» Das mobile Palliative-Care-Team kann aber viel mehr als Reden: nämlich Menschen mit einer schweren Diagnose im Krankheitsprozess begleiten und ihre Symptome lindern. Wichtig ist der Fachfrau, «Mitgefühl, aber kein Mitleid» zu zeigen. Die Betroffenen seien immer noch Herr über ihre Lage, würden selbst entscheiden und auch das Tempo angeben.

Die Patientin vom letzten Besuch verdrängt offenbar ihre gravierende Diagnose Wäre denn die Krankheitseinsicht wichtig? Spahic sagt: «Nicht unbedingt. Wenn man aber eine Ahnung davon hat, dass eine Krankheit zum Tod führt, kann man das Leben bewusster gestalten und auch die Therapien besser zulassen, zum Beispiel Medikamente gegen den Schmerz eher akzeptieren.»

«Patientinnen, Patienten und ihre Familien geben mir so viel Preis – dass ich sie auf keinen Fall enttäuschen oder ihre Würde verletzen will.»

Spahic arbeitet seit vier Jahren für Onko Plus, und sie hat nach wie vor Respekt vor den vielfältigen Anforderungen, die sich ihr und ihren Kolleginnen stellen. Vor allem die Kommunikation fordere sie immer wieder heraus. «Mit einem falschen Wort kann man alles zerstören.» Sie arbeitete zuvor als stellvertretende Leiterin eines Pflegezentrums und war Palliative-Care-Verantwortliche. Sie hatte dort ebenfalls mit chronisch kranken Menschen zu tun, aber als Onko-Plus-Mitarbeiterin ist sie heute in der spezialisierten Palliative Care tätig, die Menschen mit komplexen Krankheitsbildern und schwer zu bändigenden Symptomen betreut. Habe sie zu Beginn noch Vieles nachgelesen und sich bei Medikamenten doppelt abgesichert, gehe sie nun mit grösserem Selbstvertrauen zu Patientinnen und Patienten nach Hause.

Dennoch sieht sie in ihrer Arbeit «etwas Heiliges», das sie auf keinen Fall zerstören wolle. «Patientinnen, Patienten und ihre Familien geben mir so viel Preis – dass ich sie auf keinen Fall enttäuschen oder ihre Würde verletzen will.» Ihr Ziel sei, dass jemand mit möglichst wenig Schmerzen und anderen Symptomen gut leben und schliesslich sterben könne, wo und wie er sich das gewünscht habe.

Selbstvertrauen im Job gewachsen

Auch beim nächsten Patienten in Embrach geht sie sehr behutsam vor: Der Patient mit einem Magenkarzinom und einem künstlichen Darmausgang (Stoma) weist laut Spahic alle Zeichen auf, die auf einen baldigen Darmverschluss hindeuten. Weil sie grossen Respekt davor hat, den verwachsenen Darm zu verletzen, traut sie sich nicht, über das Stoma einen Einlauf zu machen. Diese Entscheidung spricht sie später am Telefon mit dem behandelnden Hausarzt ab. Er gibt ihr Recht und verspricht, dem Patienten am Wochenende einen Besuch abzustatten.

Die vielen positiven Rückmeldungen, die Amira Spahic von Angehörigen und Hausärztinnen erhält, haben ihr mit der Zeit die Sicherheit gegeben, ihren Job gut zu machen.

Ihr Sohn brachte Strassenkinder nach Hause

Spahic verbrachte ihre ersten sechs Lebensjahre in Banja Luka in Bosnien-Herzegowina, bevor sie mit ihren drei Geschwistern und ihrer Mutter dem Vater in die Schweiz nachzog. Er war bereits vor den Balkankonflikten bei den SBB tätig. Der Vater ihres Mannes kam ebenfalls vor dem Bosnienkrieg hierher. Ihr Schwiegervater stammt aus Zentralbosnien. Die beiden lernten sich in Zürich kennen. Mit ihren Kindern sprach das junge Paar bis zum Kindergarten nur Bosnisch. Es ging ihnen darum, dass sie ihrer Herkunftssprache auch mächtig sind, Deutsch lernen sie in Kita und Schule sowieso. Heute würden sie zu Hause ein Gemisch aus Schweizerdeutsch und Bosnisch sprechen.

Nationalistisch veranlagt sind Amira Spahic und ihr Mann nicht. Dennoch reisen sie jedes Jahr einmal nach Bosnien. In der Kleinstadt, aus der die Familie ihres Gatten kommt, haben sie auf unbürokratische Art und Weise ein Unterstützungsangebot für Kranke und sozial benachteiligte Familien mit Kindern aufgebaut. Viele Menschen lebten dort mit sehr wenigen Mitteln, darunter auch Kinder, erzählt Spahic zurück im Büro bei einem schnellen Kaffee. Ihr eigener Sohn brachte sie auf die Idee, weil er wiederholt fragte, ob seine Freunde bei ihnen essen oder sogar schlafen könnten. Momentan sind sie daran, das kleine Hilfswerk in eine Stiftung umzuwandeln, und sie wollen künftig vor allem Lehrmittel für Primarschüler finanzieren, die teuer sind und sich die Familien nicht leisten können.

«Der Krieg löste bei vielen etwas aus, das mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit wieder aufbricht.»

Ihre Herkunft versetzt Spahic in ihrer Arbeit als Palliativpflegefachfrau immer wieder in die Lage, als eine Art Dolmetscherin zwischen den Kulturen vermitteln zu müssen. Ja, sie glaube, dass Patientinnen und Patienten aus ihrem Kulturkreis andere Eigenheiten und deshalb auch andere Bedürfnisse hätten als solche mit Schweizer Herkunft. «Der Krieg löste bei vielen etwas aus, das mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit wieder aufbricht. Es geht um Verlust, verletzte Würde und fehlendes Vertrauen.» Viele von ihnen würden auch die Krankheit anders erleben als Menschen ohne Migrationserfahrung, sie definierten sich über Beschwerden und nicht über Ressourcen. Bei vielen seien zudem die Kinder stark involviert. «Oftmals muss der älteste Sohn über die weitere Behandlung entscheiden.» Meistens würden die Familien alles wünschen, was medizinisch machbar sei, nur wenige würden auf Behandlungen verzichten und zu Hause sterben. «Dabei sagt mein Vater, dass früher in Bosnien das Sterben zu Hause normal war.»

Spahic behagt es nicht, über ihre Landsleute zu urteilen. Sie anerkennt, dass sie und ihre Kolleginnen von Onko Plus diesen anders begegnen müssten. Schliesslich gehe es aber auch bei ihnen allein darum, auf ihre Wünsche einzugehen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Eine heilige Aufgabe, findet Spahic.

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