Tagebuch des Kummers

28.11.25

Literatur

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Cover des Buches von Olga Martynova: Gespräch über die Trauer

 

Die russische Lyrikerin und Essayistin Olga Martynova begibt sich im Buch Gespräch über die Trauer auf eine zutiefst persönliche und zugleich universelle Reise durch die Landschaft der Trauer. Sie schreibt am 14. Februar 2019, sieben Monate nach dem Tod ihres Mannes Oleg Jurjew: «Ich habe mein Leben und meine Trauer miteinander bekannt gemacht. Sie können sich vertragen und mein Leben hat kein Bedürfnis, sich von meiner Trauer zu trennen.» Es sind dann auch diese Worte, die den Kern des Buches zusammenfassen: Martynovas Trauer ist kein Zustand, den sie überwindet, sondern eine fortwährende Begleitung, die zu ihrem Leben gehört.

Martynova, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin, blickt in Gespräch über die Trauer nicht nur auf ihre Trauer, sondern auch auf das gemeinsame Leben mit Oleg Jurjew, der auch als Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer bekannt war. Sie waren 37 Jahre miteinander verbunden, und sie erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit in Russland mit anderen Intellektuellen, ihre Übersiedlung nach Deutschland und an das gemeinsame Familienleben mit ihrem Sohn. Wie weiterleben, wenn alles stillsteht? «Der Schmerz und die Erstarrung {…} – im Wechselspiel. Präzise dosiert, dass man gerade noch am Leben bleibt.»

Ihr Tagebuch, das sie am 3. August 2018 beginnt, ist eine Sammlung von Reflexionen, Gedankensplittern und tiefgründigen philosophischen Auseinandersetzungen. Ihre Einträge reichen bis zum 3. Februar 2021 und enden im Wesentlichen genauso, wie sie begonnen haben: als unaufhörliche Suche nach einem Umgang mit der Trauer. Der Tod ihres Mannes, der für sie sowohl ein persönliches als auch ein intellektuelles Vakuum hinterlässt, lässt sie in der Literatur Antworten suchen. Sie liest u. a. Roland Barthes, Joan Didion, Elias Canetti und David Grossman – «wie ein krankes Tier ein bestimmtes Kraut frisst, lese ich bestimmte Bücher», schreibt sie und zeigt damit auf, wie sehr für sie lesen ein Versuch ist, die Leere und das Unbegreifliche zu fassen.

Martynovas Buch ist einzigartig und prägt sich durch eine ganz eigene Stimme und Perspektive tief in die Lesenden ein. Ihre Tagebuch-Einträge sind teilweise sehr kurz, ein Satz – «vielleicht vermissen uns unsere Toten genauso, wie wir sie vermissen» – um dann wieder für längere Gedankenspaziergänge bei Ovids Orpheus und Eurydike zu verweilen und Trost oder Erklärungen in der Mythologie zu suchen.

Sie glaubt, dass Trauer eine Aufgabe ist, für die es keine Lösung gibt. «Begreife mich, sagt das Unbegreifliche», schreibt sie. Sie ist der Meinung, «dass die einzige Lösung der Trauer die Wiederbelebung des Toten wäre». Es sind solche Sätze, die die Lesenden in eine andere Dimension der Trauer führen.

Es ist keineswegs nur eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen, sondern auch ein literarisches und politisches Zeugnis. Martynova spricht den russischen Krieg gegen die Ukraine an und die politische Situation in Russland, die sie daran hindert, das Grab ihres Mannes zu besuchen, weil sie nicht mehr in ihr Heimatland einreisen kann. In diesem Kontext wird die Trauer um ihren Mann auch zur Trauer um eine verlorene Heimat und eine politische Situation, die nicht nur ihre persönliche Freiheit einschränkt, sondern auch den Zugang zu den Orten der Erinnerung unmöglich macht.

Gespräch über die Trauer ist von sprachlicher Brillanz und ein tiefgründiges Buch über den Schmerz des Verlustes, die Suche nach Antworten – auch in der Literatur –, und die Erkenntnis, dass wir mit der Trauer leben können. – Katrin Zbinden

Olga Martynova: Gespräch über die Trauer, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2023

Katrin Zbinden (Jahrgang 1975) kennt Palliaviva als Angehörige und schreibt für diesen Blog in loser Folge Rezensionen von Büchern übers Leben und Sterben. Ihr Mann starb im Frühling 2024 an einem bösartigen Hirntumor. Seither macht Katrin Zbinden die Erfahrung, dass ihr Lesen bei der Verarbeitung der Trauer hilft. So entstand eine Literaturliste, die sie anderen Interessierten zur Verfügung stellt.

Sie ist ehemalige Verlagsleiterin einer Architekturzeitschrift und arbeitet freiberuflich für die Stiftung Architektur Schweiz und für Camponovo Baumgartner.

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