Noch einmal nach Morcote reisen oder nicht mehr aufwachen
20.05.21
Lesen Sie einen exklusiven Auszug aus dem Buch «Wie ich behandelt werden will». Es dreht sich um die vorausschauende Behandlungsplanung, wie sie Palliaviva standardmässig anwendet. Das Ziel ist, auch im Falle einer Urteilsunfähigkeit im Sinne der Patient*in zu handeln.
Liselotte Vogt zeichnet mit dem Kugelschreiber eine horizontale Linie aufs Papier, die in einer Pfeilspitze endet. Darunter schreibt sie «Schweizer Ruth». Sie schaut die Patientin an und sagt: «Das ist Ihr Lebensstrahl. Wann er fertig ist, weiss niemand.» Etwa in der Hälfte teilt sie den langen Strahl mit einem kurzen Querstrich. «Das ist der Hirntumor als Zeitmarker. Nun geht es darum herauszufinden, wie Sie die Zeit erleben wollen, die noch kommt.»
Neben Ruth Schweizer sitzt ihr Mann, Werner Schweizer. Es ist wichtig, dass er bei dieser Beratung dabei ist, weil sie ihn zu ihrem gesetzlichen Vertreter bestimmt hat. Das folgende Gespräch dient der Standortbestimmung und klärt, wie die Behandlung der Patientin weitergehen soll. Was soll geschehen, wenn sich eine Notfallsituation ergibt oder belastende Symptome auftreten; vor allem dann, wenn Frau Schweizer in einer akuten Situation nicht urteilsfähig sein sollte? Das Standortgespräch basiert auf den Grundsätzen von Advance Care Planning (ACP).
Aus dem Radio, das im Hintergrund läuft, klingen die hellen Schellen einer Weihnachtswerbung. Es ist November. Das Ehepaar und die Pflegefachfrau sitzen im offenen Wohn-Esszimmer des renovierten Bauernhauses – eines «Generationenhauses», wie Werner Schweizer bei der Begrüssung gesagt hat – an einem ovalen Holztisch. Darauf liegt eine Häkeldecke.
Sie habe schon länger gemerkt, dass etwas nicht stimme mit ihr.
Ruth Schweizer trägt Jeans, einen dünnen Strickpullover und eine randlose Brille. Nur ihre auberginefarbene Baumwollkappe, welche die Farbe ihres Oberteils wieder aufnimmt, weist auf ihre Krankheit hin. Unter der Kappe ziehen sich zwei Narben, nah nebeneinander liegend, quer über ihren kahlen Kopf. Sie hat zwei Operationen, eine Chemo- und eine Strahlentherapie hinter sich.
Eines Morgens kam die heute 67-Jährige nicht mehr aus ihrem Bett hoch. Sie habe auf die Toilette gehen wollen und sei auf dem Boden gelandet, erzählt sie. Am Schluss kniete sie zwischen Wand und Bett und konnte sich nicht mehr rühren. Die Patientin spricht gefasst. Im Spital habe man die Ursache erst nicht gefunden. Erst in Kombination mit einer Diagnose des Augenarztes, dem Ausfall des unteren Gesichtsfelds, kamen die Ärztinnen und Ärzte auf die Diagnose Hirntumor. Diese Mitteilung habe sie gar nicht so erschüttert. Sie habe schon länger gemerkt, dass etwas nicht stimme mit ihr.
Liselotte Vogt ist Pflegefachfrau bei Palliaviva. Die 60-Jährige arbeitet seit fünf Jahren für das mobile Palliative-Care-Team, einem von insgesamt sechs solcher spezialisierten Dienste im Kanton Zürich. Palliaviva deckt die ganze westliche Hälfte des Kantonsgebiets ab; ist zum Beispiel für Rafz zuständig, wo das Ehepaar Schweizer wohnt.
«Es gibt Momente, in denen ich denke, es wäre gut, wenn es fertig wäre.»
Ruth Schweizer, Palliativpatientin
«Wie gerne leben Sie?», beginnt Vogt das Interview. «Manchmal lieber», sagt Ruth Schweizer und schiebt nach: «Es gibt Momente, in denen ich denke, es wäre gut, wenn es fertig wäre.» Aussenstehende würden ihr aber sagen, sie habe doch drei Enkel, für diese lohne es sich zu kämpfen. Sie habe ein bisschen aufgegeben, das stimme. Vogt hakt nach und fragt nochmals nach, und nach längerem Wortwechsel wird klar: Die Patientin hält nicht mehr viel am Leben, aus ihren Worten klingt Resignation. Wie es um ihre Lebenslust bestellt sei, wenn sie morgens aufstehe, fragt die Beraterin zuletzt. «Der Sinn fehlt halt», gibt die Patientin mit leiser Stimme zu.
Ruth Schweizer bestellte bereits vor mehreren Jahren Unterlagen bei Pro Senectute, mit der sie eine Patientenverfügung hätte selbst ausfüllen können. Die Blätter liegen nun unberührt neben ihr, sauber in ein Sichtmäppchen gepackt. «Ich war ja immer gesund», begründet sie den Aufschub. Mit der Diagnose Hirntumor im Januar ist eine Urteilsunfähigkeit in greifbare Nähe gerückt. Deshalb hat sie auch im April handschriftlich einen Vorsorgeauftrag verfasst. Darin hielt sie fest, dass sie im Falle ihrer Urteilsunfähigkeit a) ihren Mann und b) ihren Sohn ihre Personen- und Vermögenssorge übergibt. Auch dieses Dokument zeigt sie ACP-Beraterin Vogt.
Schweizer geht es mit ihrem Glioblastom – einem bösartigen, hirneigenen Tumor, der nach heutigen Erkenntnissen als unheilbar gilt – noch verhältnismässig gut. Noch kann sie klar denken, gehen, sich selbst waschen und auf die Toilette gehen. Ein leichter Druck im Kopf verschwindet wieder nach der Behandlung mit Cortison. Einzig eine Gangunsicherheit macht ihr zu schaffen. Sie benutzt zwar draussen einen Rollator, aber das Fortbewegen mit der Gehhilfe bereitet ihr Mühe. Entweder stosse sie diese, statt sich nur daran festzuhalten, und werde dann zu schnell. Oder sie beginne zu «täppelen», sagt ihr Mann. Wolle sie bremsen, drehe sie sich im Kreis. In der Wohnung kann sie sich alleine fortbewegen, muss sich jedoch an Wänden und Möbeln abstützen. Bereits mehrmals ist sie zudem gestürzt. Ein Horror für Werner Schweizer. Er kann ihr kaum aufhelfen, ihr Körper verliere in diesen Situationen völlig an Spannung und sei schwer wie ein Kartoffelsack.
Abschweifen erlaubt
«Angenommen, Sie erwachen morgen nicht mehr – was löst dieser Gedanken in Ihnen aus?» Vogt macht weiter mit den Standortfragen nach ACP, die zur Therapiezielfindung dienen. «Das wäre schön», sagt Ruth Schweizer und schaut ihren Mann an. «Aber er soll nicht in der Wohnung weiterleben müssen, in der ich gestorben bin.» Bei einem plötzlichen Herzversagen solle man sie in Ruhe gehen lassen und nicht die Ambulanz rufen. Bei belastenden Symptomen wie starken Schmerzen hingegen möchte sie ins Spital gebracht, dort behandelt werden – und dort auch sterben. «Ich möchte meiner Familie nicht zur Last fallen.»
Die Patientin blickt zur Wand, wo zwei Kinderporträts hängen. Ihr Sohn ist heute erwachsen, Helikopterpilot bei der Schweizer Armee und hat selbst drei Söhne. Ihre Tochter kam mit einem offenen Rücken zur Welt. Mit 15 Monaten starb sie im Kinderspital. Das sei für sie als Eltern einfacher zu verkraften gewesen, als wenn sie daheim gestorben wäre, sagt Ruth Schweizer. Die medizinische Versorgung war damals ohnehin nicht so weit, dass eine Familie ihr schwer behindertes Kind hätte zu Hause pflegen können. Eine ganz Hübsche sei das Mädchen gewesen, berichtet sie weiter. Ihr Mann verlässt den Tisch, verschwindet im Nebenzimmer und bringt einen kleinen, weissen Lederschuh mit. Dieser wurde speziell für das Kind gefertigt und kostete 700 Franken. Die Ärzte hätten neue Behandlungsmethoden wie zum Beispiel ein Streckbettchen ausprobiert, sprachen von Erfolgen im Ausland. Nun erzählen beide, abwechslungsweise. Manchmal hätten sich ein Doktor und seine Studenten rund um ihre Tochter geschart. «Sie war dann kein Baby mehr, sondern ein Fall.» Für sie als Eltern sei das schwierig gewesen. Schliesslich habe sich herausgestellt, dass das Kleinhirn des Kindes nicht entwickelt gewesen war, es habe weder gehört noch gesehen. Liselotte Vogt hört aufmerksam zu, macht sich Notizen. Nach ein paar Minuten sagt Werner Schweizer: «Wir schweifen ab.» «Ja, wir schweifen ab», stellt auch Liselotte Vogt fest, «aber es ist wichtig für ihr Leben».
Den Faden des früh verstorbenen Töchterchens nimmt Ruth Schweizer bereits bei der nächsten Frage wieder auf, die lautet «Darf oder soll eine medizinische Behandlung dazu beitragen, Ihr Leben in einer Krise zu verlängern? Welche Belastungen und Risiken würden Sie dafür in Kauf nehmen?». Sie wolle nicht «an Geräte gehängt und zum Sabberi» werden, sagt sie. Von einer Person zu einem Fall zu werden, macht ihr Angst. Sie will kein «Versuchskaninchen» sein. Ähnliche Erfahrungen habe sie mit ihrem Kind gemacht.
Klar wird, dass sie sich in einer ambivalenten Lage befindet. Einerseits hat sie resigniert, andererseits hält sie sich noch am kleinen Hoffnungsfaden einer Verbesserung fest.
Ob es Situationen gebe, in denen sie nicht mehr lebensverlängernd behandelt werden wolle, fragt die Beraterin. Als die Patientin keine Antwort findet, präzisiert sie: «Was wäre, wenn Sie einer dritten Operation zustimmen würden, und etwas ginge schief?» Eine dritte Operation komme nur in Frage, wenn diese ihren Allgemeinzustand verbessere, sagt Ruth Schweizer. Mit einem MRI, das in ein paar Wochen gemacht wird, soll festgestellt werden, ob vom Tumor noch etwas vorhanden ist nach der letzten Bestrahlung. Sollte diese erfolglos gewesen sein, wäre der Tumor sogar gewachsen, würde sie wohl auf weitere Behandlungen verzichten. Ganz sicher ist sie sich darüber jedoch nicht. Ihre Antworten auf Vogts mehrmaliges Nachfragen widersprechen sich zum Teil. Klar wird, dass sie sich in einer ambivalenten Lage befindet. Einerseits hat sie resigniert, andererseits hält sie sich noch am kleinen Hoffnungsfaden einer Verbesserung fest. Vogt schlägt vor, diesen Punkt ein anderes Mal wieder aufzunehmen und weiterzufahren.
«Haben Sie religiöse, spirituelle oder persönliche Überzeugungen, die Ihnen bei der Bewältigung Ihrer Krankheit helfen?» Ruth Schweizer winkt ab. An Gott glaube sie nicht. Ihr Mann, ihr Sohn und seine Familie würden ihr Kraft geben. «Und die Natur, wenn ich noch richtig laufen gehen könnte.» Sie sei aber weder gläubig noch spirituell praktizierend. Früher habe sie regelmässig einen Qi-Gong-Kurs besucht. Sie habe das Zusammensein mit den anderen Teilnehmerinnen genossen, und auch das Sammeln ihrer Gedanken, das «Inwendigsein», habe ihr geholfen. Seit sie krank sei, könne sie an der Gruppe nicht mehr teilnehmen.
«Worauf hoffen Sie?» fragt Vogt. Ruth Schweizer sagt, sie wünsche sich, nochmals ins Tessin zu reisen mit ihrem Mann, nach Morcote am Lago di Lugano. Als junge Frau sei sie mit einer Kollegin, die ein eigenes Auto hatte, da gewesen. Ihr Mann kennt ein kleines Restaurant an der Seepromenade, in dem würde er gerne mit ihr essen. Um 15 Uhr fährt dann das Schiff nach Lugano, dort würden die beiden das Funicolare, die Standseilbahn, nehmen, wieder rauf zum Bahnhof. Werner Schweizer sagt, die Voraussetzung für diesen Ausflug sei, dass sie mindestens 100 Meter selbstständig gehen könne.
[…]
Ruth Schweizers Zustand verschlechterte sich kurz nach dem ACP-Gespräch rapide, sie stürzte mehrmals zu Hause, so dass sie ins Pflegeheim eintreten musste. Am 8. Juli 2020 verstarb sie im Alter von 67 Jahren auf der Palliativstation des Spitals Bülach. Unser herzliches Mitgefühl gilt Ihrer Familie.
Das ist ein Auszug aus dem Buch «Wie ich behandelt werden will. Advance Care Planning», das in der Reihe rüffer & rub cares erschienen ist. Sie können es im Buchhandel kaufen oder hier beim Verlag bestellen.
Tanja Krones und Monika Obrist (Hrsg.): Wie ich behandelt werden will. Advance Care Planning. Mit Illustrationen von Lilian Caprez. rüffer & rub cares, April 2020. ISBN 978-3-906304-62-5