«Mich trägt man nur noch mit den Füssen voraus hier heraus»

21.06.17

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Die Onko-Plus-Mitarbeitenden untersuchen standardmässig auch die Sauerstoffsättigung der Patienten (Bild: Sabine Rock).

Besucht Onko Plus zum ersten Mal einen Patienten zu Hause, sind die Erwartungen oft hoch. Wie läuft ein Erstgespräch ab? Ein Gastautor hat uns auf Tour begleitet.

Von Felix Ghezzi

«Wenn du abnehmen willst, dann empfehle ich dir diese Krankheit», antwortet er manchmal auf die Frage, wie es ihm gehe. Karl Weber*, 71 Jahre alt, sitzt abgemagert Silke Willrodt gegenüber. Die Pflegefachfrau ist für das Erstgespräch zu ihm nach Hause gefahren, sie hat am Morgen eine Stunde dafür in ihrer Agenda reserviert. «Vor 48 Stunden habe ich zum ersten Mal von Onko Plus gehört, sagt Herr Weber und schaut zu seiner Frau, die neben ihm am Kopf des Tisches sitzt. Sie hat die Organisation auf Rat des Onkologen angerufen. Ihr unheilbar kranker Mann soll dank der palliativen Pflege von Onko Plus zu Hause bleiben können.

Karl Weber trägt eine moderne graue Brille, hellblaues Hemd, darüber einen grauen Pullover. Rechts vor ihm auf dem Esstisch eine Früchteschale mit Apfel, Birne, Nektarine, Banane – aus Holz, naturgetreu bemalt. Er schaut über den Zürichsee ans andere Ufer, darüber die Albiskette, dahinter die schneebedeckten Alpen – fast zum Greifen nah. Draussen ein Wetter wie aus einem Panoramakalender an diesem ersten Freitag im März. In Karl Weber tobt der Krebs – zuerst war es ein Lungentumor, dann ein Blasentumor, inzwischen sind es Metastasen im Becken und in der Wirbelsäule. Doch es scheint, als würde die Landschaft auf ihn zurückwirken. Er spricht besonnen, bringt seine Anliegen schnell auf den Punkt. Später, von Pflegefachfrau Silke Willrodt darauf angesprochen, ob er eine Patientenverfügung ausgefüllt habe, wird er sagen: «Ich bin Realist.»

«Innerhalb einer Stunde ist jemand bei Ihnen. Wir können auch Infusionen legen und Schmerzmittel verabreichen.» Silke Willrodt, Palliativpflegefachfrau

Silke Willrodt übergibt dem Ehepaar eine Mappe mit der Notfalladresse, Informationen über das Angebot von Onko Plus, darin auch die Fotos der Pflegefachfrauen, alle mit Palliative-Care-Ausbildung. Willrodt erklärt, dass die Institution an sieben Tagen 24 Stunden erreichbar ist. «Innerhalb einer Stunde ist jemand bei Ihnen. Wir können auch Infusionen legen und Schmerzmittel verabreichen.» Frau Weber ist erleichtert. Eben noch hat sie die Pflegefachfrau an der Haustür begrüsst, als hätte sie zu Kaffee und Kuchen geladen. Inzwischen sehen die Augen hinter den Brillengläsern trauriger aus. «Ich muss auch an mich denken», sagt sie – und ihr Mann und Frau Willrodt geben ihr Recht. Die Betreuung ihres Mannes ist besonders in der Nacht eine Belastung, wenn er kaum mehr atmen kann oder unerträgliche Schmerzen hat. Muss sie eine Ambulanz bestellen oder nicht? In Zukunft wird jemand von Onko Plus am Telefon weiterhelfen oder zu Hilfe eilen.

Silke Willrodt kennt die Krankengeschichte; der Onkologe hat sie ihr geschickt. Herr Weber hat in ein paar Stunden den Termin für die letzte Strahlentherapie. Ihn beschäftigt jedoch etwas anderes: «Ich habe Hunger und Durst. Aber alles, was ich esse, muss ich wieder erbrechen.» Ein Problem, das nahezu alle Krebskranken im Endstadium plagt. Inzwischen mag er nur noch Joghurt mit geraffeltem Apfel zu sich nehmen. Seine Frau zeigt Frau Willrodt ein Fläschchen und fragt, ob sie solche Nahrungsergänzungsdrinks, die Vitamine, Mineralstoffe, Fett und Eiweiss enthalten, sinnvoll findet. «Das ist eine gute Sache.» Karl Weber mag die Drinks allerdings nicht: «Die schmecken trotz verschiedenen Aromen alle gleich. Aber wenn sie mich stärken …» Silke Willrodt macht ihn darauf aufmerksam, dass es noch eine Konkurrenzmarke gibt. «Dann esse ich mich da mal durch», meint Herr Weber und seine Mundwinkel ziehen sich hoch zu einem Schmunzeln.

«Ich will zu Hause sterben.» Karl Weber, Krebspatient

Herr Weber erzählt, er führe zusammen mit einem Kollegen einen Lebensmittelhandel. Das strahlend weisse Haus mitten in einem Rebberg zeugt von erfolgreichen Jahren. Noch hat er nicht alle seine Arbeiten einem Nachfolger übergeben.

Es ist ein heikles Thema, und Silke Willrodt ist wegen der Frage auch schon fast vor die Tür gestellt worden. Herr Weber spricht jedoch über seine Krankheit so unverblümt, dass sie es wagt, vielleicht auch, weil Frau Weber in den oberen Stock verschwunden ist, um die Patientenverfügung zu kopieren: «Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wo sie sterben möchten?» Es gibt nichts zu überlegen: «Ich will zu Hause sterben», und nach einer kurzen Pause, «Wenn es meine Frau nicht zu sehr belastet.» Er habe das Haus 1993 in einem fast abbruchreifen Zustand erworben. Als er eingezogen sei, habe er sich gesagt: «Mich trägt man nur noch mit den Füssen voraus hier heraus – Sie kennen doch die Redensart, oder?» Silke Willrodt lacht ihn an und nickt.

Inzwischen hat sich Frau Weber wieder dazu gesetzt. Sie erfährt zum ersten Mal von seinem Wunsch. Doch sie wird es geahnt haben bei seiner Einwilligung, die Onko Plus anzurufen. Es scheint, als hätte das Ehepaar über alle Dinge gesprochen, die gegen Ende des Lebens geregelt werden können. Silke Willrodt, die bereits im Paracelsus Spital in Richterswil und im Zürcher Lighthouse Menschen beim Sterben begleitet hat, erlebt oft, dass dies nicht der Fall ist, dass «die Situation knorzig ist, die Betroffenen aneinander vorbeireden».

«Es sieht sehr schlecht aus.» Silke Willrodt, Palliativpflegefachfrau

Die Pflegefachfrau vereinbart mit dem Ehepaar, dass wöchentlich jemand von Onko Plus vorbeikommt. Nun ist das Wichtigste besprochen. Zum Schluss bittet sie Herrn Weber, den Oberkörper frei zu machen. Sie misst den Blutdruck, den Puls. Sie hält ihre Hände auf den Bauch, auf dem die Markierungen für die Bestrahlung angezeichnet sind, klopft ihn ab. «Ich höre den Darm arbeiten», sagt die Pflegefachfrau.

Wieder im Auto, und ein paar Kurven entfernt, meint Silke Willrodt bedrückt: «Es sieht sehr schlecht aus.» Man erkenne es an der Haut. Dass der Onkologe kein Ernährungsplan erstellt hat, ist auch kein gutes Zeichen. Wie lange er noch leben wird? Tage? Wochen? Silke Willrodt möchte nicht spekulieren.

Drei Wochen nach diesem Gespräch ist Karl Weber in der Klinik Susenberg gestorben.

* Name geändert

 

 

Felix Ghezzi ist Lektor und stellvertretender Leiter des rüffer & rub Sachbuchverlags in Zürich. Er hat diesen Text im Rahmen seiner Ausbildung in Corporate Writing geschrieben. Die Aufgabe war, eine Berufsreportage zu erstellen. Der rüffer & rub Sachbuchverlag hat mehrere Bücher zum Thema Krebs und Demenz veröffentlicht. Letztes Jahr publizierte der Verlag zusammen mit palliative zh+sh das Buch «Reden über Sterben», dieses Jahr im Herbst erscheint «Reden über Demenz».

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