Mein erster Toter

08.03.17

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Wir verlassen eben die Wohnung eines Patienten in der Nähe von Regensdorf, als erneut die Ehefrau anruft. Ihr Mann sei soeben gestorben. Für mich ist es klar, dass ich meine Kollegin an den Zürichsee begleite. (Bild: Paul Gsell/fotolia.de)

Wie ist es, wenn man zum ersten Mal einen Toten sieht? Wie ist es, ihn zu berühren, anzukleiden und umzulagern? Unsere Kommunikationsverantwortliche, ein medizinisches Greenhorn, erzählt von ihrem ersten Mal.

Von Sabine Arnold

Ich bin eine der Menschen, die schon 40 Jahre alt sind, und trotzdem noch nie einen Toten gesehen haben. An der Beerdigung meines Grossvaters wollte ich keinen Blick in den Sarg werfen. Bei meinem Momi – meine Grossmutter, die an Alzheimer erkrankt war und an meinem 16. Geburtstag starb – stellte sich die Frage nicht. Ich glaube, sie wurde gar nicht aufgebahrt.

Trudi, meine andere Grossmutter, starb erst vor wenigen Jahren mit über 90 Jahren. Kurz vor ihrem Tod besuchte ich sie, als sie nach einem Schlaganfall im Spitalbett lag: Ich merkte, dass sie auf dieser Abteilung, bei diesen Pflegenden, in besten Händen ist. Sie kümmerten sich rührend um sie – und auch um mich, als ich an ihrem Sterbebett weinte. Trudi und ich sahen uns nochmals in die Augen und verabschiedeten uns. Ich ging nach Hause. Traurig, aber irgendwie beseelt. Zwei Tage später starb sie. Ich musste sie nicht mehr anschauen, um zu glauben, dass sie tot ist.

Meine Freundin Silvia, die überraschend schnell an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, hätte ich gerne noch einmal betrachtet, als sie aufgebahrt war. Ich war zu dieser Zeit aber im Ausland.

Die Angst vor dem Ersticken

Und nun also mein erster Toter bei Onko Plus. Ich bin für Kommunikation und Fundraising verantwortlich, unterstütze die Geschäftsleiterin in diesen Bereichen an zwei Tagen pro Woche. Als medizinischer Laie darf ich regelmässig meine Kolleginnen und meinen Kollegen bei ihren Patientenbesuchen begleiten. Ich soll begreifen, was unsere alltägliche Arbeit ausmacht und auch Kontakt zu Patienten und Angehörigen aufnehmen können. Sie sind es, die eine Hauptrolle in unserem Blog spielen, dessen Betreuung zu meinen Aufgaben gehört.

Am besagten Tag bin ich mit Marianne Unger unterwegs. Marianne hatte Pikettdienst gehabt und war in der Nacht bei einem Ehepaar am Zürichsee gewesen. Der Patient hatte mit Atemnot zu kämpfen. Sie konnte ihm mit einem Beruhigungsmittel und Morphin helfen. Bei diesem Einsatz habe der Patient seine Angst vor dem Sterben geäussert, erzählt sie. Er fürchtete, ersticken zu müssen. Die Pflegefachfrau erläuterte dem Ehepaar daraufhin die Möglichkeit der palliativen Sedation. Vereinfacht gesagt, verabreicht man dabei einem Patienten, der nur noch ein paar Tage oder Wochen zu leben hat und dessen Symptome anders nicht zu lindern sind, ein starkes Mittel. Dieses versetzt ihn in einen künstlichen Tiefschlaf.

Am Morgen ruft die Ehefrau wiederum aufs Piketthandy an, ihr Mann habe immer noch Atemnot. Zum Glück habe ich schon früher das Steuer übernommen, und Marianne kann in Ruhe mit der Angehörigen sprechen. Sie rät ihr, es erneut mit Beruhigungsmitteln, Morphin sowie einem weiteren Medikament zu versuchen. Danach versucht sie, die Hausärztin des Patienten zu erreichen.

Gar nicht so einfach, einen Toten anzuziehen

Wir verlassen eben die Wohnung eines weiteren Patienten in der Nähe von Regensdorf, als erneut die Ehefrau anruft. Ihr Mann habe eben den letzten Atemzug getan. Er sei friedlich gestorben. Marianne kondoliert ihr und verspricht, sofort zu kommen. Auch für mich ist es klar, dass ich sie an den Zürichsee begleite.

Die Ehefrau empfängt uns gefasst, aber nervös. Marianne schüttelt ihr die Hand und sagt, es sei doch positiv, dass er so friedlich habe einschlafen dürfen. Schliesslich hätten sie erst vor ein paar Stunden über seine Angst vor dem Ersticken gesprochen.

Der Mann liegt im Bett, zugedeckt, auf der Bettwäsche ranken sich Sonnenblumen. Sein Mund steht weit offen. Er sieht nicht aus, als ob er schlafen würde, sondern bereits sehr tot, denke ich. Ob wir ihn waschen und ihm etwas Schönes anziehen wollen, fragt Marianne. Die Frau scheint ein bisschen überfordert, bringt dann aber ein Becken mit warmem Wasser, ein Hemd, eine Hose. Sie möchte nicht helfen beim Waschen und Anziehen, ist aber immer im Raum und unterstützt uns.

Marianne wäscht den Verstorbenen, und zu zweit ziehen wir ihn an. Das ist gar nicht so einfach, wie ich merken muss. Nachdem der eine Arm ins Hemd eingefädelt ist, drehen wir den schweren Körper auf die Seite und ziehen den Stoff unter dem Rücken durch. Es erinnert mich daran, wie man ein Kleinkind anzieht ohne es hochzuheben. Man dreht es ebenfalls von der einen auf die andere Seite.

Sich bei Toten entschuldigen

Mit geübten Handgriffen zeigt mir Marianne , wie man die knifflige Aufgabe löst, ein so enges Kleidungsstück wie ein Hemd über den leblosen Oberkörper und die Arme zu streifen. Wenn wir ihn berühren und bewegen müssen, entschuldigen wir uns beim Verstorbenen, als würde er es noch merken. Das wirkt nicht künstlich, sondern ergibt sich irgendwie von selbst. Wir möchten den Mann möglichst respektvoll und sanft behandeln, auch wenn er nicht mehr lebt.

Zuletzt zieht ihm seine Gattin Socken an. Wir legen ihn gerade hin, mit gefalteten Händen. Den Mund schliessen wir und binden ihn mit einer Gazebinde fest. Die Frau kann sie später, wenn die Leichenstarre eingesetzt hat, wieder entfernen. Mit geschlossenem Mund sieht der Mann wieder aus wie eine Person. Er ähnelt sich vermutlich selbst wieder, denke ich, auch wenn ich ihn gar nicht gekannt habe. Marianne erzählt später, er sei immer sehr charmant gewesen.

Im Wohnzimmer sprechen wir darüber, was jetzt zu tun und wer zu verständigen ist. Sie könne den Verstorbenen bis zu drei Tage zu Hause behalten, sagt Marianne. Vielleicht wollten ja auch die Enkel den Grossvater noch sehen. Noch immer wirkt die Ehefrau seltsam ruhig, steht aber herum, als wüsste sie nicht, wohin mit sich. Ich vermute, dass sie eine Art Schock hat. Ob wir sie alleine lassen dürfen, fragen wir. Ja, meint sie. Sie wolle jetzt ihre Kinder über den Todesfall informieren.

Nur abgedroschene Floskeln?

Ich weiss nicht, was ich zu dieser Frau, die eben zur Witwe geworden ist, sagen soll. Vieles scheint mir abgedroschen. Viel Kraft wünsche ich ihr, und dass es mir leid tut, sage ich.

Der Anblick des Verstorbenen geht mir an diesem Tag nicht mehr aus dem Kopf. Doch nicht etwa, weil er etwas Beängstigendes oder Verstörendes an sich gehabt hätte, auch nichts Ekliges. Sondern er erschien mir irgendwie normal, einfach sehr deutlich tot. Er wäre überhaupt nicht mit einem Schlafenden zu verwechseln gewesen. Das Bild vom Tod als Bruder des Schlafs stimmt also nicht, jedenfalls nicht von aussen betrachtet.

Gleichzeitig versuche ich, mich in die Situation der betroffenen Familie zu versetzen. In dieser Optik kommt mir der Tod wie eine gewaltige Kraft vor, der jemanden aus seinem Gefüge reissen kann. Gestern war er noch da, heute nicht mehr. Ich denke öfters an die Ehefrau und beschliesse, Marianne später zu fragen, wie es ihr gehe. Ein paar Wochen nach dem Tod wird sie die Witwe  nämlich nochmals anrufen und sich nach ihrem Befinden erkundigen. Das gehört zum Standard von  Onko Plus. Man möchte die Angehörigen mit ihrem Erlebnis nicht alleine zurücklassen. Der Tod soll sie nicht traumatisieren.

 

Sabine Arnold ist bei Onko Plus für Kommunikation und Fundraising zuständig. Sie schreibt die meisten Beiträge auf diesem Blog. Obwohl sie einst ihre Lizenziatsarbeit im Fach Soziolinguistik zum Thema Todesanzeigen verfasste und sich mit den Themen Sterben und Tod theoretisch beschäftigte, geht es ihr wie vielen Gleichaltrigen in einer urbanen, westlichen Gesellschaft: Sie hat in ihrem Leben noch nie einen toten Menschen gesehen. Sie ist der Meinung, dass sich das ändern muss, und wir uns im Leben mit dem Sterben beschäftigen sollten. Denn das macht nicht Angst, sondern das Leben schöner.

 

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