«Ich versuche, die Situation nicht persönlich zu nehmen»

07.11.23

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Ruth Nievergelt, Angehörige eines Palliaviva-Patienten, steht auf einem Steg an einem See.

Ruth Nievergelt pflegt ihren Mann, der an drei verschiedenen, schweren Krankheiten leidet. Ihr Alltag ist herausfordernd und anspruchsvoll, und ihr Leben ist so intensiv wie noch nie. Es gibt Lichtblicke und Sehnsüchte.

Ungefähr alle sechs Wochen bekommen Ruth Nievergelt und ihr Mann, die im Säuliamt wohnen, Besuch von Palliaviva. Meist ist es Pflegefachmann Olaf Schulz, der vorbeikommt, um den Dauerkatheter von Ruth Nievergelts Mann zu wechseln. Sie sagt, der Kontakt zu Palliaviva habe viel Beruhigung gebracht: «Ich bin sehr froh um die Gewissheit, bei medizinischen Fragen jederzeit auf Unterstützung zählen zu können.»

Die 68-jährige Frau betreut ihren gleichaltrigen Mann rund um die Uhr; er ist hundertprozentig pflegebedürftig. Für die tägliche Grundpflege ist die Spitex im Einsatz, Ruth Nievergelt leert den Urinbeutel etwa viermal pro Tag. Über den Dauerkatheter wird der Urin ständig aus der Blase in einen Beutel abgeleitet.

Hin und wieder wird Ruth Nievergelt für einige Stunden entlastet. Ohne diese Entlastung würde sie noch mehr an ihre Grenzen stossen. Denn die Krankengeschichte ihres Mannes ist lang, der Verlauf schleichend, und es geht nicht auf-, sondern abwärts.

Schwieriges Kommunizieren

Im Jahr 2016 wurde bei ihm Parkinson diagnostiziert, später kam eine Parkinson-Demenz dazu. Zudem litt er an starken Rückenschmerzen, worauf eine komplizierte Rückenoperation folgte. Unmittelbar nach der Operation entdeckte man einen Blasentumor. Oberhalb der operierten Stelle am Rücken erlitt er nach einigen weiteren Monaten einen Bandscheibenvorfall, der heute noch starke Schmerzen verursacht. Einen weiteren operativen Eingriff lehnt er zurzeit ab.

Im Moment sei ihr Mann dank Medikamenten relativ schmerzfrei, sagt Ruth Nievergelt, solange er nicht gehen müsse. Sehr kurze Wege innerhalb des Hauses – etwa vom Tisch zum Sofa – lege er mit ihrer Hilfe und dem Rollstuhl zurück.

Nicht immer ist ihr Mann ganz klar bei sich, wie Ruth Nievergelt erzählt. Manchmal sei er vollkommen verwirrt und wisse nicht mehr, dass er krank sei; dann wieder sei er sich seiner Situation bewusst. Er verliere zunehmend die Fähigkeit zu sprechen, und eine Kommunikation auf Augenhöhe sei nicht mehr möglich. Logische Zusammenhänge könne er nicht mehr verstehen. Bei Alltagshandlungen wie beim Essen, Zähneputzen oder Nassrasieren brauche er Unterstützung, erklärt Ruth Nievergelt. «Er weiss manchmal nicht mehr, wofür die einzelnen Utensilien sind und braucht Anleitung. Dann geht es.»

«Zu zweit allein»

Für Ruth Nievergelt ist das eine grosse Belastung, viel Zeit für sich selber bleibt ihr im Alltag nicht. Am belastendsten sind für sie sind die endlose Wiederholung von Sätzen und die Tatsache, dass sie dauernd für jemand anderen da sein muss. «Ich verliere mich darin und spüre mich dann nicht mehr. Nach einigen Tagen ohne Kontakte zu Freundinnen und Freunden fühle ich mich ‹zu zweit allein›», sagt sie. Umso dankbarer sei sie, dass sie und ihr Mann einen grossen Bekanntenkreis hätten und sie sehr viel Sympathie und Zuneigung spüre. «Wenn jemand schreibt, er oder sie würde gerne wieder einmal für uns kochen, bin ich überwältigt.» Ihre Gefühle seien stark schwankend – ­­­­­­­­von grösster Freude bis zu tiefster Verzweiflung.

Hadert sie mit der Lebenslage, in der sie sich mit ihrem Mann befindet? Sie bemühe sich, das nicht zu tun, gibt sie zur Antwort. «Ich habe manchmal schon Mühe damit, dass es einen Menschen so schwer treffen kann wie meinen Mann. Aber ich versuche, die Situation nicht persönlich zu nehmen. Das sind einfach Schicksale.» Eine gewisse Akzeptanz ist für sie offenbar hilfreich, um den kräftezehrenden Alltag meistern zu können.

Ruth Nievergelts Mann ist in England geboren und arbeitete als Wissenschaftler und Forscher. Sie ist im Kanton Zürich aufgewachsen, unterrichtete viele Jahre als Oberstufenlehrerin, absolvierte diverse Weiterbildungen und arbeitet heute noch reduziert als Coach und Supervisorin. Zudem hat sie sich schon in der Vergangenheit intensiv mit Themen wie Meditation und Spiritualität auseinandergesetzt. Hilft ihr dieses Wissen nun dabei, trotz ständigen Grenzerfahrungen gesund zu bleiben? «Auf jeden Fall», erwidert Ruth Nievergelt; manchmal denke sie sogar, sie habe sich selber unbewusst auf die jetzige Aufgabe vorbereitet.

In der Gegenwart leben

Es ist gut nachvollziehbar, dass sie sich in ihren verschiedenen Rollen, die sie auszufüllen hat, mitunter gefangen fühlt. Sie erzählt, dass sie hin und wieder Sehnsüchte umtreiben, zum Beispiel die Sehnsucht danach, spontan wegfahren und machen zu können, was sie wolle. Das Bewusstsein, dass sich diese Sehnsucht erst nach dem Tod ihres Mannes erfüllen kann, ist bedrückend und traurig. «Es kann ja auch sein, dass mich mein Mann überlebt und sich diese Sehnsucht für mich gar nie mehr verwirklicht.»

Sie versuche darum, sich so gut wie möglich an die Gegenwart zu halten – und für ihren Mann und sich das Beste aus der Situation zu machen: «In meinem Mikrokosmos liegt die ganze vielfältige Welt, die es zu gestalten gilt. Das ist sehr beglückend, wenn es mir gelingt, aus dem, was ich habe, viel zu machen, mich zu entwickeln und nicht zu verbittern.»

Das Gespräch mit Ruth Nievergelt gibt es hier als Podcast zu hören.

Zur Website von Ruth Nievergelt:
https://www.inmitten-dazwischen

Buchtipp: Gabriele von Arnim, Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Rowohlt-Verlag. ISBN 978-3-499-00634-0

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