«Ich ernte, was ich gesät habe»

22.11.22

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Noémi D. de Stoutz

Noémi D. de Stoutz war Palliativpionierin, Onkologin und Patientin mit einem angeborenen Herzfehler. Sie setzte sich zeitlebens dafür ein, dass palliative Therapien in der Onkologie und auch in der Kardiologie an Bedeutung gewinnen. Ganz zum Schluss erlebte sie als Patientin von Palliaviva, dass sich ihr Einsatz gelohnt hat.

Noémi D. de Stoutz hat keine Kraft, dem Besuch die Tür zu öffnen. Wer zu ihr kommt, kennt den Code des Schlüsselsafes, öffnet die Türe eigenständig und findet sie dann im Wohnzimmer am Esstisch sitzend, vor sich ein Kreuzworträtselheft und den Laptop, neben sich den Rollator. Sie bittet einen gleich, etwas Geschirr und das leere Fläschchen eines kalorienreichen Drinks in die Küche zu tragen. Die Clementinen auf dem Teller mag sie nicht mehr essen. Sie bietet sie der Besucherin an.

Ihr Lächeln ist strahlend. Die Farbe ihres Oberteils kräftig. Sonst ist die 64-Jährige aber ziemlich geschwächt. Ab und an pausiert sie beim Sprechen. Die im Bauch und Oberkörper eingelagerte Flüssigkeit erschwert ihr, die bis auf die Knochen abgemagert ist, das Atmen. Sie kündigte im Vorgespräch an, mehr als eine Stunde läge nicht drin.

Ich geniesse jede Begegnung. Das ist das grosse Abenteuer des Lebens. Sonst wäre ich nicht Palliativmedizinerin geworden.» Noémi D. de Stoutz, Palliativmedizinerin und Onkologin

De Stoutz lebt mit einem angeborenen Herzfehler. Ende 2021 kam sie deswegen auf die Palliativstation, danach übergangsweise ins Pflegeheim, weil gleichzeitig ihre Küche renoviert wurde. Seit zwei Monaten wird sie zu Hause von der Spitex und Palliaviva betreut.

Wie geht es Ihnen heute?

Schitter [Zürichdeutsch für «schwach, schäbig»].

Trotzdem lächeln Sie. Müssen Sie sich dazu zwingen?

Nein, ich geniesse jede Begegnung. Das ist das grosse Abenteuer des Lebens. Sonst wäre ich nicht Palliativmedizinerin geworden.

Hängt Ihre Berufswahl mit Ihrer Erkrankung zusammen?

Dank meines Herzfehlers wusste ich im Gegensatz zu meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen, dass ich nicht Medizin studiere, um Leben zu retten. Denn das Leben ist mir Wurst, das hat zwei Enden. Deshalb war ich weniger von der Medizin enttäuscht als andere.

Dass ein Arzt zugeben kann, dass er auch nicht immer weiterweiss. Diese Haltung strebte ich ebenfalls an.»

Weshalb haben Sie denn Medizin studiert?

Tiefenpsychologisch habe ich das nie analysiert. Zuerst wollte ich Kinderärztin werden, weil mir klar wurde, dass ich keine eigenen Kinder haben werde. Ich dachte, ich könne so die Kinder anderer Leute geniessen. Mir wurde aber bewusst, dass viele von ihnen nicht gern zum Arzt gehen und dass mich alle Altersgruppen faszinieren. Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als ich einen Kinder-Herzchirurgen beobachtete, der an einem Bett stand und sich am Kopf kratzte. Er strahlte ein Gefühl von Hilflosigkeit aus. Da wusste ich: Das will ich auch.

Weshalb?

Dass ein Arzt zugeben kann, dass er auch nicht immer weiterweiss. Diese Haltung strebte ich ebenfalls an.

Wie gingen Sie vor?

Ich probierte alles, um der Kardiologie auszuweichen. Als ich von der Onkologie schliesslich in die Palliative Care wechselte, wurde mir aber bewusst, wie viele Gemeinsamkeiten onkologische und kardiologische Patientinnen und Patienten haben. Ab einem gewissen Fortschreiten der Krankheit stehen bei beiden Symptomlinderung und Lebensqualität als Ziele im Vordergrund und nicht mehr Heilung.

Ist das den Kardiologinnen und Kardiologen auch bewusst?

Nein, deshalb drehte sich mein zweiter Kampf um dieses Bewusstsein. In meinem ersten Kampf ging es darum, in der Onkologie Palliative Care zu etablieren. Das war in den 80er- und 90er-Jahren. Ab der Jahrtausendwende konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Onkologin arbeiten. Damals begann ich, mein Wissen aus der Onkologie, der Palliative Care und der Kardiologie zu verbinden. Als Patientenvertreterin für Cuore Matto, eine Vereinigung für Jugendliche und Erwachsene mit einem angeborenen Herzfehler, gewann ich in dieser Zeit in der Kardiologie zunehmend an Einfluss. Ich versuchte, den Zusammenhang zwischen Palliative Care und Kardiologie bekannter zu machen.

Weshalb ging es in der Onkologie nicht mehr?

1999 erlitt ich erstmals schwere Herzrhythmusstörungen. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch an den Walliser Spitälern als Onkologin in Teilzeit angestellt. Als mein Vater starb, begann ich zu zehn Prozent im Zürcher Hospiz Lighthouse zu arbeiten. Dort wurden die Rhythmusstörungen häufiger. Auf dem Arbeitsmarkt war ich schliesslich nicht mehr handelbar und erhielt ab 2011 eine volle Invalidenrente.

Mehr Wasser als Mensch

In den letzten Jahren sei es «süüferli» bergab gegangen, sagt Noémi D. de Stoutz, die in ihre wohlformulierten Sätze immer wieder urtümliche und auch derbe Mundartwörter mischt. In dieser Phase habe ihr Umfeld nicht hören wollen, dass sie mit dem Ende rechne. Ihr war die Veränderung jedoch bewusst. 2017 bekam sie eine Herzbeutel-Entzündung und gleichzeitig eine Achalasie, eine Verengung der Speiseröhre. In der Folge nahm sie stark an Gewicht ab, obwohl sie zusätzlich zu den normalen Mahlzeiten Astronautenkost trank, um genug Eiweiss aufzunehmen.

2018 stellte ihr Kardiologe fest, dass ihr Gewicht zwar stabil blieb, aber immer mehr aus Wasser bestand, «und weniger aus mir», wie sie sagt. Heute verlässt sie kaum noch das Haus, weil sie nicht mehr Auto fahren darf. In den eigenen vier Wänden benützt sie den Rollator. Ihre Schwester und ihr Schwager kommen einmal pro Woche vorbei und kaufen für sie ein. Ausserdem aktiviert sie die Nachbarschaftshilfe: Fehlt ihr etwas im Haushalt schreibt sie einem befreundeten Taxifahrer, der ihr abends zum Beispiel eine Tube Zahnpasta vorbeibringt.

Dieser kleine Erfolg ist sehr erfüllend, auch wenn es sonst nur wenig richtig angenehme Momente gibt.»

Bezeichnen Sie Ihren heutigen Zustand als palliativ?

Ja, eindeutig.

Hilft Ihnen Ihr Wissen als Palliativmedizinerin weiter?

Davon bin ich überzeugt. Ich weiss, was zur Verfügung stehen müsste. Es ist ein irrsinnig befriedigendes Gefühl, jetzt zu ernten, was ich gesät habe. Die guten Kardiologen haben gelernt, dass man die Zusammenarbeit mit der Palliative Care einrichten kann. Eine solche Schmerzmittel-Pumpe, wie ich sie hier habe, brauchten wir in der Onkologie in den 80er-Jahren bereits für kontinuierliche Chemotherapien zu Hause. Die Kardiologen kennen diese Geräte nur aus der Herzchirurgie, für ambulante Zwecke verwendeten sie sie nicht. Bei mir wird die Pumpe jetzt für die permanente Verabreichung von Lasix eingesetzt, einem ausschwemmenden Medikament. Dieser kleine Erfolg ist sehr erfüllend, auch wenn es sonst nur wenig richtig angenehme Momente gibt.

Können Sie kurz umreissen, welches die Unterschiede zwischen Ihrer kardiologischen und Ihrer palliativen Behandlung sind?

Diesen Sommer war ich abwechslungsweise 14 Tage zu Hause und 14 Tage im Spital. Immer wenn ich im Spital stabil war, wurde ich nach Hause geschickt, dann war ich hier am Waschen und Aufräumen, bis es wieder zum Eintritt kam. Kardiologen sind sich gewohnt, dass ihre Patienten ein paar Tage im Spital verbringen, sie setzen ihnen etwas ein, und die Patienten gehen wieder nach Hause. Die Kardiologen denken, zu Hause sei alles wie vorher.

Palliativmediziner wissen hingegen, dass es anders ist?

Ja, sie sind sich bewusst, dass eine Krankheit fortschreitet. Dass sich die Situation verändert. Dass es zu Hause besser – oder auch schlechter – gehen kann. Sie denken voraus.

Das Vorausplanen und das Aufbauen eines unterstützenden Netzwerkes zu Hause macht es also aus?

Ja. So banal es klingt. Nicht mal im Pflegeheim wurde vorausgeplant. In der Langzeitpflege ist man kaum darauf eingestellt, dass jemand nach Hause austritt. Ich wurde ohne Spitex-Verordnung nach Hause geschickt. Als ich mich bei der lokalen Spitex anmeldete und sagte, dass ich gerne eine Haushaltshilfe für die Reinigung hätte, sagte die Koordinatorin, man könne nicht mit einem Anspruch kommen. Sie glaubten mir zuerst nicht, dass ich so krank bin. 90 Minuten Basisreinigung pro Woche zu erhalten, war ein Kampf.

Wirken Sie manchmal zu stark?

Das war immer mein Problem. Ich wirkte immer stärker, als ich bin.

Meine Tendenz war stets, den anderen voraus zu sein, damit ich es nachher etwas ruhiger angehen kann.»

Sie schreiben in einem Artikel von 2006: «Unter uns [Betroffenen] gibt es Persönlichkeiten, die eher dazu neigen, aus ihrem Herzfehler Rechte und Forderungen abzuleiten, während andere ihre Normalität zu beweisen suchen und zum Teil einen hohen Preis bezahlen.» Welcher Typ sind Sie?

Ich machte immer das Maximum und versuchte, auf diese Weise weiterzukommen. Meine Tendenz war stets, den anderen voraus zu sein, damit ich es nachher etwas ruhiger angehen kann. Meine Tante hingegen, ebenfalls mit angeborenem Herzfehler, ruhte sich auf ihren Privilegien aus. Sie trug zum Beispiel in ihrem Leben nie einen Koffer.

Sie trugen ihr Gepäck immer selbst, richtig?

Ja, ich trug meine Koffer und schraubte meine Möbel selbst zusammen.

Hatte ihr Verzicht auf eigene Kinder auch mit dem Herzfehler zu tun?

Als ich im entsprechenden Alter war, besprach ich die Kinderfrage mit meinem Gynäkologen und meinem Kardiologen. Die beiden diskutierten miteinander, und der Gynäkologe riet mir, es nicht zu versuchen. Der Kardiologe – psychologisch weniger geschickt – berichtete mir von einer Publikation, in der es um eine Frau ging, die dieselbe Missbildung hatte wie ich. Sie habe die Schwangerschaft und die Geburt ihres Kindes überstanden. Ich suchte den Artikel natürlich in der Unibibliothek. Darin ging es aber lediglich um die Sichtweise der Anästhesie und wie sie mit der Niederkunft umging, es stand kein Wort darüber, wie es danach weiterging. Über die Mutterschaft mit einem Herzfehler wird immer noch sehr wenig geschrieben.

Was steht für sie im Moment im Vordergrund?

Ich bin momentan daran, meinen Nachlass zu regeln, gewissen Sachen in Ordnung zu bringen, bevor es mich «putzt». Die Prioritäten auf meiner Bucket List verschieben sich.

Was steht auf Ihrer Bucket List?

Ich beschloss bereits als Studentin, dass sich der Pathologe bei meiner Autopsie nicht durchs Fett schneiden muss.

Wie bitte?

Ich wollte nicht dick werden. Mein Gewicht hatte ich stets im Griff. Menschen mit einem Herzfehler, die zu viel geschont werden, haben die Tendenz, an Gewicht zuzulegen. Dicke Menschen sind nicht einfach zu untersuchen.

Das heisst, Sie wollen Ihren Körper der Wissenschaft vermachen?

Mein Herzfehler ist so aussergewöhnlich, dass muss eine Autopsie geben.

Was steht sonst noch auf der Bucket List?

Nordlichter. Die sah ich in Kanada, als ich während der Ausbildung für sechs Monate da war. Viele Jahre später war ich in Lappland, kurz vor dem Lockdown. Bereits als junge Frau wollte ich durch Australien reisen im Zug, von Sidney nach Perth. Das Billett hatte ich bereits in der Handtasche, als ich hospitalisiert wurde und eine Woche in Sidney im Spital verbrachte.

Hatten Sie trotzdem etwas von Australien?

Ich bin dort zu Hause [strahlt].

Das heisst?

Australien wurde meine zweite Heimat. Es gefiel mir so gut dort, als ich als Studentin eine Weile dort lebte.

Was bedeutet Lebensqualität für Sie?

In der Erfüllung zu leben, dass aus meinem hartnäckigen Engagement wirklich etwas geworden ist. In der Pflegewissenschaft wird das «Sense of Coherence» [auf Deutsch «Gefühl der Bedeutsamkeit der eigenen Tätigkeit»] genannt.

Sie konnten Einfluss nehmen, Sie haben Spuren hinterlassen.

Ja, ich bin beeindruckt davon und auch ein bisschen verwirrt vom Ganzen.

Weshalb verwirrt?

Weil es fast zu viel ist.

 

Dieses Gespräch wurde am 3. November 2022 in der Wohnung der Patientin geführt. Nur eine Woche später ist sie auf der Palliativstation im Universitätsspital Zürich verstorben. Sie war ursprünglich dort eingetreten, um abklären zu lassen, ob das Ablassen der eingelagerten Flüssigkeit ihr Erleichterung verschaffen könnte. Ihren Angehörigen sprechen wir unser herzliches Beileid aus.

 

Ein Leben für und als Betroffene

Noémi D. de Stoutz hat trotz ihres schweren angeborenen Herzfehlers – einer komplexen pulmonalen Atresie – Medizin studiert. Zuerst war sie als Onkologin tätig, wo sie sich schon früh für palliative Therapien und einen ganzheitlichen Ansatz in der Onkologie einsetzte. Sie veröffentlichte unter anderem das Fachbuch «Symptomorientierte onkologische Therapie» und etliche wissenschaftliche Arbeiten in diesem Themenbereich. Als Palliativmedizinerin war sie am Zürcher Lighthouse tätig. Sie engagierte sich zudem in verschiedenen Organisationen für Patientinnen und Patienten mit angeborenem Herzfehler, etwa bei Cuore Matto oder als Vorstandsmitglied von Global Arch, einer internationalen Organisation, die sich für Menschen mit einem angeborenen Herzfehler einsetzt.

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