Hartnäckige, treue Seele
24.05.19
Hannelore Karst wird diesen Sommer 80 Jahre alt. Sie feiert den runden Geburtstag mit so vielen Gästen, wie noch nie, und animiert diese, auf Geschenke zu verzichten und Palliaviva das Geld zu spenden. Sie verdanke unserer Organisation viel, wie sie sagt.
«Mir fiel ein Mühlstein vom Herzen, als die Onko-Spitex zu uns kam», sagt Hannelore Karst. Die 79-Jährige hat vor 13.5 Jahren ihren Mann verloren. Sie sitzt am Esstisch in ihrer gemütlichen Wohnung in Wettswil. Den Blick in den Garten überlässt sie dem Gast. Sie selbst schaut aufs Gemälde, auf dem ihre Liebsten – ihr verstorbener Mann und ihr Pferd – zu sehen sind. Nach dem Tod ihres Mannes sei ihr der Schimmel ein grosser Trost gewesen. «Das war Heilung für Körper, Geist und Seele.» Das Tier starb leider ebenfalls, vor sieben Jahren, in seinem 33. Altersjahr.
Ihr Mann litt am Myelodysplastischen Syndrom (MDS), einer Art Blutkrebs, die verhindert, dass die roten Blutkörperchen reifen. Sechs Jahre lang lebte er mit der Diagnose, das letzte Jahr sass er im Rollstuhl. Zwischendurch war er immer wieder auf Bluttransfusionen angewiesen, für die er jeweils mit der Ambulanz ins Spital transportiert wurde.
Doch je länger dieses Hin-und-her zwischen Zuhause und Spital dauerte, desto mehr hatte das Ehepaar Karst Mühe damit, wie es im Spital behandelt wurde. «Einmal hiess es schlicht: Heute gibt’s kein Blut. Den Grund erklärte man uns ohne Nachfrage nicht», erzählt die Witwe. Als sie einmal mit einem Arzt übers Sterben im Spital sprechen wollten, hätte dieser nur salbungsvolle Worte in den Mund genommen, die die beiden nicht verstanden. «Wir wollten aber Klartext.» Der zweite Arzt wurde dreimal im Gespräch gestört und ging dann aus dem Zimmer. Es sei zu erheblichen Spannungen am Spitalbett gekommen. Sie schrieb sich später den ganzen Schmerz von der Seele. Die A4-Seiten liegen geheftet in einem Ordner vor ihr.
Über die grüne Grenze geflohen
Dabei ist Hannelore Karst keine, die sich unterkriegen lässt. Ihr ganzes Leben hatte sie sich behaupten müssen. Sie kam vor dem Zweiten Weltkrieg in Dresden zur Welt, verlor früh ihre Mutter, holte in der damaligen DDR das Abitur nach und begann im tschechischen Brünn Veterinärmedizin zu studieren. 1964 floh sie von dort über die grüne Grenze in den Westen. Über München gelangte sie schliesslich nach Zürich, wo sie an der frisch eröffneten Uni Irchel als Tierpflegerin arbeitete und ihr Studium beendete. Später erwarb sie den Doktortitel. «Als Frau musste man immer besser sein als die Männer», sagt sie.
Der MDS-Patient war ihr zweiter Ehemann. Sie lernten sich kennen, als sie 39 und er 55 Jahre alt war. Er war eher ein schüchterner Typ, der ebenfalls aus Deutschland kam und einen nüchternen und vermittelnden Charakter hatte. Der Altersunterschied sei nicht spürbar gewesen. Sie erlebten 24 glückliche Jahre zusammen.
Nach vier Jahren mit der Diagnose war er in bereits schwachem Zustand und litt unter Atemnot. Im Spital wollte man ihm ein Jahr vor seinem Tod keine Bluttransfusion mehr geben, nur Cortison für ein mögliches Wohlbefinden. Seine Frau versprach ihm aber: «Ich kämpfe dafür, dass du dein Blut kriegst.» Sie telefonierte herum und erkundigte sich in anderen Spitälern. Schliesslich riet ihr eine Onkologin, die Onko-Spitex beizuziehen, wie Palliaviva damals noch hiess.
«Insgesamt war die Behandlung zu Hause halb so teuer wie im Spital und bekam meinem Mann erst noch viel, viel besser.» Hannelore Karst, verlor ihren Mann vor 13.5 Jahren
Als das Ehepaar realisierte, dass die Bluttransfusionen durch die spezialisierte Spitex auch zu Hause verabreicht werden können, waren sie glücklich: «Insgesamt war das Prozedere halb so teuer wie im Spital und bekam meinem Mann erst noch viel, viel besser.» Das Wichtigste sei für ihn gewesen, dass er seinen Tagesablauf selbst bestimmen und möglichst viel Zeit mit ihr verbringen konnte, auch wenn er nur noch wenig Kraft hatte und schnell ermüdete. Die jahrelangen Bluttransfusionen führten ausserdem dazu, dass sich in seinem Körper Eisen ablagerte, und dies führte zu Schmerzattacken.
Ihr Mann beendete sein Leben schliesslich mit Exit selbst. Sie seien beide seit Jahren Mitglied gewesen, der Sterbebegleiter, den sie bereits eineinhalb Jahre vor dem tatsächlichen Tod kontaktierten, sei der Erste gewesen, der ihre Anliegen ernst genommen habe und für sie jederzeit erreichbar war. Und dann eben Palliaviva, die «Onko-Spitex»: Hannelore Karst lobt die feinfühlige und kompetente Arbeit der damaligen Pflegenden. Seither spendet die lebenslustige Witwe als Gönnerin unserer Stiftung jedes Jahr einen namhaften Betrag.
«Wenn ich zu jemandem Ja sage, bleibe ich für ihn da, bis er stirbt.» Hannelore Karst
Sie ist telefonisch nicht leicht zu erreichen. Denn sie ist einerseits sportlich aktiv, geht regelmässig ins Yoga und zum Laufen. Ausserdem kümmert sie sich um ihre «Wahlverwandtschaft», jahrelange Freunde und Bekannte, die zum Teil pflegebedürftig sind. «Wenn ich zu jemandem Ja sage, bleibe ich für ihn da, bis er stirbt.»
Mitte Juli wird Hannelore Karst 80 Jahre alt und organisiert zum ersten Mal im Leben ein grosses Fest: Sie strahlt. Ein Freund habe sie inspiriert, der seinen 88. Geburtstag in grossem Rahmen gefeiert habe. Das will sie nun auch. «Schliesslich weiss ich nicht, wie alt ich werde.» Sie möchte allen «Wahlverwandten» gleichzeitig Danke sagen. Sie hat 40 Gäste eingeladen und einen Saal in einem Landgasthof reserviert. In der Einladung hat sie bereits vermerkt, man solle auf Geschenke verzichten und stattdessen Palliaviva einen Beitrag spenden. Sie wird am Fest ein Kässeli aufstellen und über unsere Arbeit informieren. Die Broschüren liegen bereits auf dem Buffet neben der Eingangstür bereit.