Grossfamilie

15.03.17

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Kinderreiche Familie im Egnach, ohne Jahr (Bild: Archiv Stefan Keller).

Letzte Woche veröffentlichten wir an dieser Stelle den Beitrag «Mein erster Toter». Auf die Frage, in welcher Situation andere zum ersten Mal mit einem toten Menschen konfrontiert waren, stiessen wir auf diesen Text von Stefan Keller. Der Zürcher Journalist und Autor publizierte ihn kürzlich unter der Rubrik «Kellers Geschichten» im Ostschweizer Kulturmagazin «Saiten».

Von Stefan Keller

Erinnerung an einen Knaben, der kürzlich 53 Jahre alt geworden wäre, aber mit sieben Monaten starb. Es gibt kein Foto von ihm, auch keinen Grabstein mehr. Die Erinnerung beginnt an einem Sonntagmorgen im September: Ein Schrei der Grossmutter im Neben­zimmer, schnelle Schritte auf dem Flur. Die ganze Familie steht um das jüngste Kind herum, dessen Augen sich merkwürdig verdrehen, während die Grossmutter ruft: Er stirbt!

Die nächste Erinnerung zeigt tuschelnde Verwandte am alten, geflochtenen Stubenwagen, in dem die Leiche aufgebahrt wird, und in dem später wieder lebendige Säuglinge liegen werden. Durch die halb gezogenen Vorhänge scheint die Sonne. Er sieht gar nicht tot aus, flüstert eine Verwandte, man könnte ihn jetzt noch fotografieren. Abends versammeln sich die Geschwister um den Stubenwagen und sprechen gemeinsam das Nachtgebet. Einer der Brüder, erste Primarschulklasse, berührt beim Hinausgehen die Leiche an der Stirne, obwohl das Berühren streng verboten ist: Er zuckt zurück, steckt sich rasch den Finger ins Maul. Wochenlang geht der Geschmack nicht weg.

Eine andere Erinnerung: Der Tote lebend, wie er herumkriecht, sich ans Laufgitter klammert, zu den Geschwistern blickt, die wegen Krankheit nicht in die Schule müssen, eine übliche Kinderseuche halt, wahrscheinlich die Masern. Erinnerung an den Arzt, der sonst selten ins Haus gerufen wird und den Fall für wenig dramatisch hält. Schon erscheint der Schreiner mit dem Klappmeter; zur Beerdigung wird der Sarg aber nicht im schwarzen, mit Pferden bespannten Leichenwagen gefahren, sondern auf der Rückbank des väterlichen Citroëns. Er ist so kurz, dass man gut daneben sitzen kann.

Erinnerung an eine wohl tröstlich gemeinte Erklärung zur Kindersterblichkeit, nach der wenigstens eines der Geschwister lange Zeit glaubte, es werde selber auch bald sterben, sich wunderte, wie es erwachsen wurde, und bis heute tief innen erschrickt, wenn irgendwo eine Lackierarbeit denselben Geruch verströmt wie jener kleine weisse Sarg.

Quelle: Saiten. Ostschweizer Kulturmagazin, St. Gallen, Nr. 265, März 2017

 

Stefan Keller, 1958, Journalist und Historiker aus dem Thurgau, lebt in Zürich.

 

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