«Es wäre eine Lücke, das Sterben auszuklammern»

14.06.18

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Hausarzt Walter Schweizer: «Diese Aufgabe rundet eine Betreuung ab. Schliesslich sterbe ich auch einmal und hoffe, dass mir dann jemand beisteht.» (Bild: zVg)

Walter Schweizer, Gründer der Gemeinschaftspraxis Engstringen, sieht es als seine Pflicht an, Palliativpatientinnen und -patienten zu betreuen, die zu Hause sterben wollen.

Walter Schweizer nimmt sich über Mittag Zeit für ein Interview. Obwohl die Praxis geschlossen ist, hört man ihn mit einer Patientin reden. Er begleitet sie, eine ältere Dame, zum Ausgang. Sie nennt ihn vertraut «Walti» und bedankt sich mehrfach, dass sie den Termin, den sie gestern vergessen hat, heute über Mittag nachholen konnte.

Wie viele Palliativpatientinnen und -patienten betreuen Sie momentan?

Walter Schweizer: Eine Patientin ist kürzlich gestorben, die ich zusammen mit Onko Plus betreut habe. Von der Diagnose bis zum Tod ging es nicht lange, nur drei Wochen. Sie war betagt, und man stellte einen fortgeschrittenen Tumor erst spät fest. Das war eine gute Zusammenarbeit. Die Patientin war dankbar, und ihre Töchter haben die Situation bestens gemeistert.

Wie oft waren Sie bei dieser Frau?

Praktisch jeden zweiten Tag. In der Nacht, als sie starb, ging ich hin, um ihren Tod festzustellen und schickte nicht den Notfallarzt.

Wie viele solch intensiver Betreuungen können Sie gleichzeitig leisten?

Mit mehr als zwei wird es streng. Eine Häufung kommt zum Glück aber selten vor. Momentan habe ich etwa vier Patientinnen und Patienten, die schwer erkrankt sind, und es irgendwann vermutlich so weit kommen wird. Noch laufen aber kurative Behandlungen, und es besteht Hoffnung.  Durchschnittlich sind es wohl zwei bis drei Palliativpatientinnen und -patienten pro Jahr.

Wollen diese Menschen zu Hause sterben?

Ja, in der Regel wollen sie das. Manchmal sind die Prozesse aber auch unvorhersehbar: Ein Patient mit einem Pankreaskarzinom, von dem ich dachte, wir hätten alles aufgegleist, wurde wegen Komplikationen ins Spital eingeliefert. Dort entwickelten sich weitere Komplikationen wie Blutungen und Lungenembolien, bis er – schneller als gedacht – gestorben ist.

Hätten Sie das zusammen mit Onko Plus beim Patienten zu Hause auffangen können?

Diese Blutung aus dem Darm nicht, nein. Der Mann war noch nicht so weit, dass er keine lebenserhaltenden Massnahmen mehr wollte, und man alles hätte geschehen lassen können. Er hatte die Diagnose erst wenige Wochen zuvor erhalten. Begreiflich, dass man als Betroffener dann noch alles in Anspruch nimmt. Onko Plus war noch gar nicht im Spiel, das wäre noch gekommen. Andererseits ist er jetzt erlöst.

«Ich definiere mich als Beziehungsmediziner.»

Betreuen Sie auch Patientinnen und Patienten, die in einem Altersheim leben?

Ja, wenn meine Patienten in ein nahes Altersheim ziehen, zum Beispiel jenes in Weiningen, betreue ich sie weiter. Manchmal über Jahre hinweg, auch bis sie sehr gebrechlich und vielleicht dement werden. Wenn sie selbst nicht mehr gut zu Fuss sind, gehe ich etwa über Mittag dorthin, untersuche und behandle sie im Heim.

Ist Ihnen eine konstante Beziehung zu Patientinnen und Patienten wichtig?

Ja, auf jeden Fall. Ich definiere mich als Beziehungsmediziner.

Was ist der Vorteil, wenn man als Arzt eine Beziehung zum Patienten hat?

Das hängt mit meinem Charakter und Typ zusammen. Für mich ist der Gewinn des Beziehungsmässigen gegenseitig. Es gibt aber einfach auch Menschen, die autistischer sind – ohne das negativ zu werten. Für sie ist es nicht wichtig, eine Beziehung zum Arzt zu haben, oder sie haben sogar Angst davor.

«Die lokale Spitex, Onko Plus und ich als Hausarzt bilden ein ideales Trio.»

Welcher Vorteil bringt die Beziehung in der Behandlung?

Ich bringe ein grösseres Engagement. In der Regel habe ich meine Leute gern. Die Chemie stimmt.

Fallen auch schwierige Gespräche einfacher?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe mich aber bereits im Studium für Psychosomatik, Ganzheitlichkeit und Gespräche interessiert. Ich mache auch medizinische Hypnosen. Für mich waren die Fähigkeiten ausserhalb des Medizinisch-Technischen immer wichtig.

Dann sind Sie prädestiniert für die Palliativmedizin.

Ich habe sie auch schon immer gemacht. Natürlich früher weniger strukturiert als heute. Heute bilden die lokale Spitex, Onko Plus und ich als Hausarzt ein ideales Trio.  Wir können Vieles professionell aufgleisen.

«Ich bin Mediziner für alles Lebendige, Gesunde und Kranke. Dann muss ich mich auch ums Sterben kümmern.»

Wie kommen Palliativpatientinnen und -patienten zu ihnen?

Meist waren sie bei mir in Behandlung, und ich kenne sie schon länger, auch wenn einige seltene Gäste sind wie die Dame, von der ich ganz zu Beginn sprach. Ich behandelte sie einmal vor zehn Jahren im Notfalldienst wegen einer Lungenentzündung. Dann blieb sie bei mir, weil sie offenbar zufrieden war.

Weshalb übernehmen Sie diese aufwändige und wenig lukrative Aufgabe?

Weil ich finde, dass Sterben ein wichtiger Prozess für uns Menschen ist, auch wie man stirbt, mit allen Sinnfragen und dem, was danach kommt. Ich empfände es als Lücke, wenn ich diesen wichtigen Teil unseres menschlichen Daseins ausklammern würde. Ich bin ja Mediziner für alles Lebendige, Gesunde und Kranke. Dann muss ich mich auch ums Sterben kümmern.

Hat die Medizin nicht versagt, wenn ein Patient stirbt?

Nein, es ist ein Begleiten. Hätte ich einen Fehler gemacht, etwa eine Diagnose verbummelt, das wäre ein Versagen. Auf irgendeine Art stirbt man ohnehin, und wenn das Schicksal einen mit einer unheilbaren Krankheit versieht, gehört das eben auch dazu.

«Wer täglich Herz- oder Darmabklärungen durchführt, lebt wirtschaftlich besser als wir Hausärzte.»

Sind Sie religiös?

Ja, teilweise schon. Mein Vater war reformierter Pfarrer.

Was gibt Ihnen diese Aufgabe?

Sie rundet eine Betreuung ab. Schliesslich sterbe ich auch einmal und hoffe, dass mir dann jemand beisteht. Geburt bis Sterben: Das ist der normale Lebenskreis.

Können Sie von einem Erlebnis erzählen, das Sie geprägt hat?

Ganz wichtig war meine Zeit als Assistenzarzt im Spital Glarus. Dort hat mich ein Oberarzt geprägt, mit dem ich befreundet war. Er hat mir gezeigt, was alles möglich ist. Das hiess noch nicht Palliative Care, sondern war eine normale Abteilung für Sterbende. Damals konnten die Menschen länger im Spital bleiben, manchmal bis zu sechs Wochen. Die Kliniken rechneten noch nicht nach dem heute geltenden System ab, das eine begrenzte Aufenthaltszeit zur Folge hat.

«Würdig heisst, eine gewisse Ruhe zum Sterben haben.»

Was war es, das Ihnen gefiel?

Ich hatte das Gefühl, die Patientinnen und Patienten hätten es gut bei uns. Wir konnten Symptome lindern und ihr Sterben würdig gestalten.

Was heisst würdig?

Würdig heisst, eine gewisse Ruhe dazu haben. Dazu sind mehr oder weniger Schmerzmedikamente nötig. Ruhe heisst auch, dass man gepflegt wird, aber nicht alles nach Schema ablaufen muss. Ruhe heisst, darüber sprechen zu dürfen. Ich involviere manchmal auch Seelsorgende, wenn ich dieses Bedürfnis spüre.

Reden Sie selbst mit den Patienten nicht übers Sterben?

Doch, natürlich, der Pfarrer kommt meist erst gegen Ende ins Spiel. Am Schluss meiner Konsultation gebe ich dem Gegenüber meist Zeit für Fragen und warte, ob etwas kommt.

«Als ich die Medikamentenliste zum ersten Mal sah, dachte ich: Läck, braucht es wirklich so viele Medikamente, für jeden Eventualfall? Inzwischen habe ich gelernt, dass das durchaus Sinn macht.»

Wie lange kennen Sie Onko Plus bereits?

Seit etwa vier, fünf Jahren.

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich muss der örtlichen Spitex, jener im rechten Limmattal, ein Kränzchen winden. Sie betreuen Patientinnen und Patienten ja meist früher, zum Beispiel für die Körperpflege. Sie holen Onko Plus zuverlässig hinzu, wenn sie den Bedarf feststellen. Hier gibt es keine Berührungsängste. Da ich die Spitex verordne, bin ich eh schon im Spiel. Wie gesagt, bewährt sich das Dreierteam Spitex, Onko Plus und Hausärzte. Mit der Spitex treffen wir uns zum regelmässigen Austausch.

Was schätzen Sie an der Zusammenarbeit?

Die Möglichkeiten, zum Beispiel mit dem Einsatz einer Schmerzpumpe, dank der wir die Schmerzmittel nicht alle paar Stunden subkutan spritzen müssen. Die Kompetenz schätze ich ebenfalls und auch den Email-Verkehr mit Fragen, Feedbacks, die klaren Massnahmenpläne mit den Medikamentenlisten. Als ich diese zum ersten Mal sah, dachte ich: Läck, braucht es wirklich so viele Medikamente, für jeden Eventualfall? Inzwischen habe ich gelernt, dass das durchaus Sinn macht.

«Mein Handlungsspielraum hat sich durch die Zusammenarbeit mit Onko Plus erweitert und nicht eingeschränkt.»

Einige Hausärzte fühlen sich auf den Schlips getreten, wenn eine Pflegefachfrau ihnen diese Liste schickt.

Ich weiss, da gibt es Konflikte. Ich persönlich kann gut Vorschläge annehmen und bei Unklarheiten nachfragen. Mein Handlungsspielraum hat sich durch die Zusammenarbeit mit Onko Plus erweitert und nicht eingeschränkt.

Können Sie sich erklären, weshalb die Zusammenarbeit zwischen spezialisierten Palliativdiensten und den Hausärztinnen und -ärzten nicht immer einfach ist?

Es gibt schon Hausärztinnen, die in einer hierarchischen Medizin aufgewachsen sind, in der es sehr autoritär zu und her ging. Früher wurde man als Assistenzarzt im Spital vielerorts wie ein Löli behandelt. Das hatte System.

Wie könnte Onko Plus Hausärzte ins Boot holen?

Vielleicht müsste man positive Fallberichte vermailen. Viele Hausärzte, die bereits länger als zehn Jahre arbeiten, haben bereits einmal mit einem spezialisierten Palliativteam Kontakt. Ihnen könnte man etwa in einem Newsletter zeigen, was verbesserungsfähig ist. Auch das Bekanntmachen und das zur Diskussion stellen des Angebots in Qualitätszirkeln wäre sinnvoll.

Seit diesem Jahr gelten neue Tarmed-Tarife. Sie können etwa weniger Zeit in Abwesenheit des Patienten abrechnen. Können Sie sagen, inwiefern sich diese auf die Betreuung von Palliativpatientinnen und -patienten auswirken?

(Winkt ab.) Ich will ja nicht sagen, die Betreuung von Sterbenden sei gut honoriert. Sicher, das Missverhältnis zu irgendwelchen technischen Arbeiten besteht. Wer täglich Herz- oder Darmabklärungen durchführt, lebt wirtschaftlich besser als wir Hausärzte. Grundsätzlich finde ich diese Änderungen aber nicht so tragisch. Denn für Patientinnen und Patienten, die älter als 75 Jahre sind, sind die Restriktionen aufgehoben. Häufig sind Palliativpatienten ja schon relativ alt, jedenfalls meine.

 

Walter Schweizer (64) führt seine Hausarztpraxis in Oberengstringen seit dreissig Jahren. Er gründete sie zusammen mit einem Kollegen zu einer Zeit, als Gemeinschaftspraxen noch nicht die Regel waren. Sein Partner zog sich vor acht Jahren zurück. Vor drei Jahren stiegen dann Katrin Stöckle und Esther Doublali, zwei Hausärztinnen im Jobsharing, in die «Gemeinschaftspraxis Engstringen» mit ein. Schweizer ist Facharzt für allgemeine innere Medizin. Seine Praxistätigkeit will er noch etwa fünf Jahre weiterführen. Den Ausgleich zur Arbeit findet er im Sport und in der Musik. Zudem geht er häufig z‘Berg.

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