«Die Young-Carer-Rolle ist ein zweischneidiges Schwert»

26.10.22

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Sarah Rabhi-Sidler

Die Soziologin Sarah Rabhi-Sidler ist Teil des Forschungsteams an der Careum Hochschule Gesundheit, das sich sogenannten Young Carers widmet: Kindern und Jugendlichen also, die kranke Familienmitglieder oder Nahestehende pflegen. Sie sagt, es gebe in jeder Schulklasse ein bis zwei von ihnen.

Was verstehen Sie unter Young Carers?

Sarah Rabhi-Sidler: Die Definition kommt aus dem United Kingdom, wo seit dreissig Jahren zu diesem Thema geforscht wird. Mit Young Carers sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gemeint, die eine ihnen nahestehende Person aufgrund eines gesundheitlichen Problems betreuen – sei dies ein Problem physischer, psychischer oder kognitiver Art. Entscheidend sind eine gewisse Regelmässigkeit bei der Betreuung und eine Verantwortung, die man eher einer erwachsenen Person zuschreiben würde.

Sie sagen «betreuen». Gehört Pflege auch dazu?

Ja, Körper- und Grundpflege gehören auch dazu, aber die Verantwortung geht zum Teil noch viel weiter: Young Carers kümmern sich auch um den Haushalt, regeln finanzielle Angelegenheiten, organisieren medizinische Termine beziehungsweise halten Kontakt zu Gesundheits-Fachpersonen. Die Aufgabe kann sich aber auch aufs Zuhören beschränken, also auf emotionale Unterstützung, so beginnt sie meist bei kleinen Kindern. Sie hören zum Beispiel ihren Eltern zu, die chronisch erkrankt sind.

Sie formulieren eine wertfreie Definition ausser dem Hinweis, dass die Kinder eine Rolle übernehmen, die eigentlich nicht kindgerecht ist.

Ja, das stimmt. Gleichzeitig können die jungen Menschen diese Aufgabe als stärkend erleben. Es kommt auf die betroffenen Personen, aber auch auf die Situation an. Es spielt eine Rolle, wie der Zustand der betreuten Person ist und wie viele Menschen sonst noch involviert sind. Es ist uns wichtig aufzuzeigen, dass die Aufgabe als Young Carer auch eine positive Wirkung auf die Identitätsbildung haben kann. Dadurch, dass die Kinder oder Jugendlichen früh Verantwortung übernehmen, fühlen sie sich besser gewappnet für ihr späteres Leben. Aber trotzdem: Die Young-Carer-Rolle ist ein zweischneidiges Schwert. Sie darf nicht zur Belastung führen.

Ihre Rolle muss nicht, kann aber langfristige Folgen auf Gesundheit und schulische Laufbahn haben.»
Sarah Rabhi-Sidler, Careum Hochschule Gesundheit

Weshalb verdienen Young Carers die Aufmerksamkeit der Forschung?

Weil es ein weit verbreitetes Phänomen ist. Wir wissen aus einer repräsentativen Studie, die wir in der Schweiz durchgeführt haben, dass 8 Prozent der Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren Young Carers sind. Das heisst, dass sich in jeder Schulklasse ein bis zwei befinden. Sie werden zum Teil in Rollen gedrängt, die nicht altersgemäss sind und in der die Belastung zu gross wird. Oft bleibt ihr Leiden unerkannt. Man weiss nicht viel über sie, auch unter Fachpersonen ist das Phänomen wenig bekannt. Möglicherweise schämt sich die Familie und möchte keinen Einblick in die Privatsphäre geben.

Weshalb sonst noch?

Die Young Carers verdienen unsere Aufmerksamkeit, weil sie die gleichen Chancen haben sollen wie andere Kinder und Jugendliche beim Start in ihr Erwachsenenleben. Denn ihre Rolle muss nicht, kann aber langfristige Folgen auf Gesundheit und schulische Laufbahn haben. Vielleicht sind sie in der Schule oft müde und können sich nicht konzentrieren, weil sie an ihre kranke Mutter denken, bereits für alle das Frühstück gemacht und jüngere Geschwister in den Kindergarten gebracht haben. Andere Young Carers brillieren in der Schule, weil sie die Zeit in diesem geschützten Rahmen geniessen, in dem es vor allem um sie selbst geht. Männliche Young Carers sind öfters von Schulabbrüchen betroffen. Hier wollen wir genauer hinschauen.

Gelten die 8 Prozent für alle Altersstufen?

Bei den 15 bis 25 Jahre alten Jugendlichen gehen wir von einem grösseren Anteil aus, von etwa 11 Prozent. Das heisst, dass je älter die Minderjährigen und jungen Erwachsenen sind, desto höher ist der Anteil an Young Carers. Das weiss man auch aus internationalen Studien.

Wie sollen Pflegende der Spitex oder eines ambulanten Palliative-Care-Teams reagieren, wenn sie merken, dass ein Young Carer involviert ist?

Super ist, dass die Fachpersonen eine junge Person überhaupt erkennen, die mehr oder weniger Verantwortung übernimmt. Ganz wichtig ist, Kinder oder Jugendliche offen zu fragen, wie es ihnen in dieser Situation geht und welche Aufgabe sie übernehmen, und Wertschätzung dafür zu zeigen. Für Young Carers ist es bedeutsam, gesehen zu werden in dem, was sie leisten. Bei männlichen Young Carers – das haben unsere Befragungen gezeigt – ist es besonders essenziell, an ihre Ressourcen anzuknüpfen, wertschätzend und positiv zu sein. Bei ihnen ist die Optik der Bewältigbarkeit zentral. Allgemein ist es gut, wenn die jungen Menschen Vertrauen fassen zu den Fachpersonen, damit sie sich öffnen können.

Wichtig für sie ist zu sehen, dass jemand anderer den geliebten Menschen ebenso gut umsorgen kann und sich für sie Möglichkeiten ergeben, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, zum Beispiel mit Sport, Musik, Freund*innen.»

Bedeutet «an Ressourcen anknüpfen» zu betonen, was sie bereits gut machen oder zeigen, wie sie sich entlasten und Energie tanken können?

Beides ein bisschen. Wichtig ist vor allem, dass man sie nicht bemitleidet, sondern ihre Leistung anerkennt. In einem nächsten Schritt lohnt es sich zu schauen, ob sie überhaupt entlastet werden wollen. Eine unserer Studien hat gezeigt, dass sich Young Carers Zeit für ihre Hobbys wünschen.

Wie können Fachpersonen Young Carers konkret entlasten?

Das ist ziemlich schwierig, wenn sich ein junger Mensch freiwillig viel bis zu viel auflädt. Vielleicht ist es gut, Betreuungs-Alternativen zu skizzieren und zu zeigen, was es für ihn oder sie bedeuten würde, diese in Anspruch zu nehmen. Denn ganz oft sorgen sich Kinder und Jugendliche am meisten um die kranke Person. Viele sagen, sie bräuchten Hilfe für Notfälle. Sie wollen mehr Informationen über eine Krankheit oder mehr von den Fachpersonen einbezogen werden. Wichtig für sie ist zu sehen, dass jemand anderer den geliebten Menschen ebenso gut umsorgen kann und sich dann für sie positive Möglichkeiten ergeben, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, zum Beispiel mit Sport, Musik, Freund*innen.

Als während des Lockdowns die Schulen geschlossen waren, fiel ein grosses Stück Normalität für sie weg.»

Wir sind natürlich auch froh, wenn Fachpersonen auf die Angebote hinweisen, die wir auf die Beine gestellt haben. Wir versuchen die sogenannten Get-Togethers, die bis jetzt im Raum Zürich und Olten stattgefunden haben, auch in andere Regionen der Schweiz zu bringen. Regionale Organisationen sollen diese Austauschtreffen aufbauen. Denn der zeitliche Aufwand, an ein solches Treffen zu reisen, spielt eine Rolle beim Entscheid, ob man überhaupt teilnimmt. Diese jungen Menschen sind fest eingespannt und sagen oft spontan ab. Orientierung bei inhaltlichen Fragen und eine Landkarte mit einer Übersicht über bestehende Unterstützungsangebote für Young Carers bietet unsere neu lancierte Website www.young-carers.ch.

Was erlebten Young Carers in der Pandemie, während des Lockdowns zum Beispiel?

Das war für sie eher schwierig, weil sie die meiste Zeit mit den betreuten Personen zusammen waren und sich nur schwer abgrenzen konnten. Als die Schulen geschlossen waren, fiel ein grosses Stück Normalität für sie weg. In der Pandemie haben wir einen Leitfaden für die Nummer 147 von Pro Juventute erarbeitet als Handhabe, wenn sich Young Carers meldeten. Sie hatten oft Sorge, dass sie die kranke Person nun auch noch mit Corona anstecken und isolierten sich aus freien Stücken völlig.

Viele Young Carers landen später selbst in einem Pflegeberuf oder ergreifen einen sozialen Beruf. Weshalb ist das so?

Sie kennen sich in diesem Feld bereits gut aus und haben erfahren, dass sie etwas Positives bewirken konnten für die betreute Person. Es gibt tatsächlich viele Young Carers, die einen sozialen oder einen Gesundheitsberuf wählen, etwa auch in der Kinderbetreuung. Es gibt jedoch auch solche, die später ganz etwas anderes machen. Es kann also in beide Richtungen gehen. Wie die betreuende Rolle die Berufswahl beeinflusst, wollen wir auch noch genauer erforschen.

 

Forschungsprojekte über Young Carer – Mitwirkende gesucht

Professorin Agnes Leu startete das Forschungsprogramm über Young Carers (YC) 2014 an der Careum Hochschule Gesundheit. In einer ersten Phase ging es darum herauszufinden, ob das Phänomen auch in der Schweiz existiert und was Fachpersonen der Gesundheit, der Bildung oder der sozialen Arbeit über dieses Thema wissen. Ein weiteres Ziel war zu zeigen, wie Fachleute Young Carers unterstützen können. Das Team der Careum Hochschule Gesundheit führte Projekte in der Schweiz durch, arbeitete aber auch mit anderen europäischen Ländern zusammen. Momentan laufen zwei Studien: Im ersten Projekt wollen die Wissenschaftler*innen herausfinden, welche Unterstützung Young Carers in palliativen Situationen benötigen. Aber auch: Was brauchen Fachpersonen, um YC gut begleiten zu können?

Für den Workshop vom 28. November 2022, 16 bis 18.30 Uhr, in Zürich werden einerseits noch mehr Fachpersonen der Palliative Care gesucht, andererseits auch Young Carers. Interessierte schreiben bitte an youngcarers@careum-hochschule.ch.

In der zweiten Studie wollen die Wissenschaftler*innen Angebote, die sie als Pilot gestartet haben, in der ganzen Schweiz etablieren. Das sind Austauschtreffen, Get-Togethers genannt, mit deren Hilfe sollen sich YC vernetzen können. Sarah Rabhi-Sidler begründet: «Oft kennen die Young Carers keine anderen Jugendlichen, die in einer ähnlichen Situation sind, haben aber ein grosses Bedürfnis, sich mit solchen auszutauschen.»

Ausserdem hat das Forschungsteam bereits eine Website aufgesetzt, weil sich Young Carer einen schnelleren Zugang zu besseren Informationen wünschen. Auf der Website werden laufend Unterstützungsangebote für Young Carers erfasst. Das Ziel ist, die Angebote in allen 26 Kantonen in der Schweiz abzubilden, damit Young Carers das passende Angebot in ihrer Nähe finden können. In einer Begleitstudie geht es zudem darum, mehr über die Bedürfnisse von männlichen Young Carers zu erfahren und die beiden Angebote entsprechend auszugestalten. Dafür sucht das Team männliche Young Carers für Interviews.

 

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