Die Familie kennt sich selbst am besten
23.03.23
Die international anerkannte Expertin Lorraine M. Wright (rechts) mit Palliaviva-Mitarbeiterin Rose Marij Wijnands.
Palliaviva bezieht die Angehörigen der Patientinnen und Patienten sehr stark ein. Nun bekommt die Familie einen noch wichtigeren Stellenwert: Das Modell der familienzentrierten Pflege wird im Alltag eingeführt. Wie geht das?
Frau Brunner sitzt auf dem Sofa in der modernen, grosszügigen Wohnung mit den hohen Fenstern. Sie sieht etwas müde aus, hat sich aber dezent geschminkt und die Haare zurechtgemacht. Die Spitex kommt einmal täglich bei ihr vorbei und hilft ihr bei der Körperpflege. Frau Brunner und ihr Mann sind um die 80 Jahre alt.
Palliaviva-Mitarbeiterin Rose Marij Wijnands ist zum ersten Mal beim Ehepaar Brunner, das eigentlich anders heisst. Ein paar Informationen hat sie vor ihrem Besuch bereits von der Tochter erhalten, die den Besuch von Palliaviva gewünscht hatte. So weiss Rose Marij Wijnands, dass Frau Brunner an einem Unterleibskrebs leidet. Und sie ist auch informiert, dass im Jahr zuvor bereits eine Kollegin von ihr in der Familie involviert war. Die Betreuung durch Palliaviva wurde dann aber zwischenzeitlich unterbrochen.
Sinnvolle Aufgabenteilung
Es scheint, als wäre Frau Brunner alleine zu Hause. Sie erzählt der Palliaviva-Mitarbeiterin, sie habe bereits Chemotherapien gemacht. Nun stehe in den nächsten Tagen eine weitere an, mit dem Ziel, die Krankheit eine Zeitlang zu stabilisieren. «Es ist ein Versuch», macht die ältere Dame klar. «Wenn ich die Therapie nicht vertrage, kann ich sie abbrechen, das habe ich mit dem Arzt so abgemacht.» Frau Brunner ist durch die Symptome ihrer Erkrankung eingeschränkt. Aktuell hat sie vor allem Atemnot durch Wassereinlagerungen in der Lunge.
Nach zehn Minuten kommt die Tochter durch die Wohnungstüre. Sie stellt sich vor und setzt sich neben die Mutter aufs Sofa. Rose Marij Wijnands fragt Frau Brunner nach ihren Wünschen. «Ich will nicht ins Spital und dort aufs Ende warten. Ich möchte bis zuletzt eine gute Lebensqualität haben.» Was das heisse, möchte die Palliaviva-Mitarbeiterin wissen. Frau Brunner erwidert: «Ich möchte nach draussen gehen und spazieren können.»
Während sie weiter erzählt, kommt ihr Mann dazu, der sich in einem Nebenzimmer aufhielt. Von ihm erfährt Rose Marij Wijnands, dass er für seine Frau und sich einkaufe und koche. Ihm gehe es gut, sagt er, wenigstens dem Alter entsprechend. Dann kommt die Rede auf die zweite Tochter, die in der Nähe der Eltern wohnt. Auch sie kümmere sich um die kranke Mutter, ist zu erfahren. Sie bringe sie zum Arzt, erledige aber vor allem auch Administratives wie das Ausfüllen der Steuererklärung oder das Bezahlen von Rechnungen.
Grafische Darstellung der Familienbande
Die Pflegefachfrau von Palliaviva hört allen Anwesenden aufmerksam zu, stellt Fragen und macht sich gleichzeitig Notizen. Dafür benutzt sie einen Notizblock und ein A4-Papier, auf das am Rand eine Art Legenden aufgedruckt sind. Es sind Zeichen und Symbole, die sie zum Zeichnen eines sogenannten Geno-Ökogramms verwendet.
Durch die grafische Darstellung kann ein Familiensystem anschaulich gemacht werden. Zu einem Geno-Ökogramm, mit dem Palliaviva arbeitet, gehört allerdings nicht nur die Familie im engeren Sinn, sondern das ganze Netzwerk: Freundinnen und Bekannte, Nachbarinnen und Nachbarn, Spitex-Fachleute und andere Unterstützerinnen und Unterstützer. Auf dem Papier entsteht eine Art Stammbaum aller Beziehungen – ein Instrument der familienzentrierten Pflege.
Austausch mit internationalen Expertinnen
«Für mich ist das Geno-Ökogramm ein Sinnbild der Verbundenheit – dafür, dass man nicht alleine ist», sagt Rose Marij Wijnands. Die Palliativspezialistin hat die Abschlussarbeit ihres MAS 2017 über familienzentrierte Pflege, abgekürzt FZP, geschrieben.
Rose Marij Wijnands hat auch Weiterbildungen bei bekannten internationalen FZP-Expertinnen besucht: Lorraine M. Wright und Janice Bell haben beide an der Universität in Calgary, Kanada, gelehrt und geforscht. In der Schweiz ist die Pflegewissenschaftlerin Barbara Preusse-Bleuler von der ZHAW führend in diesem Thema.
Die Basis der FZP bildet die bewusste Anerkennung der Tatsache, dass die Familie einen grossen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Krankheit von Familienmitgliedern hat. Oder mit den Worten von Rose Marij Wijnands: «Alle im Familiensystem sind gleich wichtig. Durch den Fokus der FZP lernt man als Pflegefachperson das Umfeld der Patientinnen und Patienten kennen. Man bekommt schnell eine zweckmässige Dokumentation, und es vereinfacht den Informationsfluss.»
Die Familie spielt für die meisten Menschen in guten und in schlechten Zeiten eine bedeutende Rolle.
Auch die nonverbale Kommunikation ist wichtig
Zurück in der Wohnung des Ehepaars Brunner. Die Tochter steht vom Sofa auf, verschwindet im Badezimmer. Man hört es in einem Schrank rumoren. Zurück kommt die Tochter mit der Notfallbox von Palliaviva, welche die Kollegin von Rose Marij Wijnands bei ihrem letzten Besuch hier deponiert hatte. In der Kartonschachtel befinden sich diverse Notfallmedikamente – alle sind unangetastet.
«Gegen die Atemnot könnten Morphintropfen helfen», informiert Rose Marij Wijnands die Familie. Frau Brunner wehrt mit den Händen ab und erklärt, sie verabscheue Medikamente, habe ausser Aspirin nie etwas genommen. «Morphium: Das ist doch eine Droge!», sagt sie, und es ist eine Feststellung von ihr, keine Frage. Dann erläutert sie ihre ablehnende Einstellung: Der Mann habe viele Jahre lang unter Migräne gelitten und sehr viele Medikamente schlucken müssen.
Für Rose Marij Wijnands ist das eine wichtige Information, wenn sie mit Frau Brunner über die Medikation sprechen will. Die Haltung der Patientin Medikamenten gegenüber ist genauso bedeutend wie die Ausführungen über ihre Wünsche für die letzte Lebensphase – und ebenso wichtig wie die nonverbale Kommunikation, die während ihres Besuches innerhalb der Familie stattfindet.
Die Pflegefachfrau verabschiedet sich von Familie Brunner und verspricht, nächste Woche anzurufen, um zu hören, wie es der Patientin mit der Chemotherapie ergeht.
Wohlwollende Neugier und Wertschätzung
Ihren nächsten Halt macht Rose Marij Wijnands im Palliaviva-Aussenbüro im Spital Bülach. Dort holt sie das A4-Papier aus ihrer Tasche und ergänzt die Skizze. Zum Netzwerk von Frau Brunner gehören nicht nur ihre Familienmitglieder, sondern auch ihr Hausarzt, der Onkologe und die lokale Spitex.
Das Geno-Ökogramm der Familie Brunner ist noch nicht fertig und wird immer wieder mit neuen Informationen ergänzt. «Es hilft, das Familiensystem in den Pflegeprozess einzubeziehen», sagt Rose Marij Wijnands. «Das machen wir bei Palliaviva schon lange, nun aber noch konsequenter und systematischer.» Die Erstellung eines Geno-Ökogramms sei kein Abarbeiten der Checkliste, betont sie; es gehe nicht darum, eine Fragenliste abzuhaken. «Ich sehe die Skizze vielmehr als Resultat einer bestimmten Haltung und einer bestimmten Art von Gesprächsführung.»
Mit dem Geno-Ökogramm im Hintergrund stellt die Pflegefachfrau automatisch andere Fragen, bezieht die Ebene der Familie und anderer Bezugspersonen ins Gespräch mit ein. Die vorhandenen Ressourcen gewinnen gegenüber belastenden Symptomen und anderen Aspekten der Krankheit an Gewicht.
«Zur Haltung, mit der man in der familienzentrierten Pflege auf Menschen zugeht, gehören wohlwollende Neugier und Wertschätzung», hält Rose Marij Wijnands fest. «Am Wichtigsten ist es, gut zuzuhören, denn die Familie kennt sich selbst am besten.»
Das Team von Palliaviva hat das Geno-Ökogramm beziehungsweise den systematischen Ansatz der familienzentrierten Pflege in der letzten Zeit eingeführt. Für die Mitarbeitenden fanden Schulungen statt, und sie wenden das Modell im Alltag an. Daneben führen sie regelmässig gemeinsame Fallbesprechungen mit dem Geno-Ökogramm durch. Das Team sammelt so jeden Tag wichtige neue Erfahrungen.
So kann ein Geno-Ökogramm über mehrere Generationen zum Beispiel aussehen (nach Barbara Preusse-Bleuler).