Der letzte Tag

18.05.18

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Margrit G. fiel erst zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes in ein Loch. Seit der Frühling da ist, geht es der lebenslustigen 66-Jährigen wieder besser. Sie ist häufig mit dem Fahrrad unterwegs (Bild: sa).

Werner G. hatte einen 12-jährigen Leidensweg hinter sich, als er starb: Nierentransplantation, zwei verschiedene Tumore und eine Epilepsie trübten seine Gesundheit. Trotzdem rappelte er sich immer wieder auf. Sein Tod kam schliesslich unerwartet schnell. Die Witwe, Margrit G., erzählt.

Werner G. war erst seit drei Tagen bettlägerig und sehr geschwächt gewesen. Am 8. November 2017 konnte er die Medikamente nicht mehr schlucken. Bei einem erneuten Versuch mit Hilfe der Spitex-Pflegefachfrau verweigerte er die Medikamente und sagte laut und bestimmt «Nein».

Nach der Körperpflege war er erschöpft und schlief wieder ein. Gegen 11 Uhr wurde er wach, und sein Blick war verändert. Margrit G. erinnert sich genau: Er hatte die Augen weit aufgemacht und schaute zur Zimmerdecke, so als wenn er etwas Besonderes sehen würde. Als sie mit ihm sprach, reagierte er und schaute sie an. Sie fragte ihn, ob sie die Kinder rufen solle und er nickte. «Diesen Moment, als die Kinder bei ihm waren, hätte ich fotografieren müssen », sagt sie rückblickend. «Er sah glücklich aus. Es war für mich der Moment, ab dem er bereit war zu gehen.»

Sie riet, die schleimlösenden Mittel abzusetzen, weil sich die zähe Masse bereits im Rachenraum des Sterbenden sammelte und seinen Atem laut und rasselnd machte.

An diesem Nachmittag kam zum ersten Mal eine Pflegefachfrau von Onko Plus. Sie riet, die schleimlösenden Mittel abzusetzen, weil sich die zähe Masse bereits im Rachenraum des Sterbenden sammelte und seinen Atem laut und rasselnd machte. Zusammen mit der Ehefrau lagerte sie den Patienten um, der mit offenem Mund schlief. Die erwachsenen Kinder waren noch da, hatten sich aber ins Wohnzimmer zurückgezogen. Die Pflegende legte dem Patienten einen subkutanen Zugang am Oberschenkel. Margrit G. konnte ihrem Mann darüber leicht Morphin spritzen, ohne ihn immer stechen zu müssen. Sie richtete ihr neun Ampullen.

Um 21 Uhr gab Margrit G. ihrem Mann erneut eine Dosis Morphin und legte sich selbst um 22 Uhr ins Bett. Tief und fest habe sie geschlafen, erzählt sie. Als sie um 23.30 Uhr wieder aufwachte, stellte sie fest, dass er sehr schwer atmete. Sie sorgte sich, ob er Erstickungsgefühle habe, und wählte die Onko-Plus-Pikett-Nummer. Marianne Unger, die diensthabende Palliativpflegefachfrau, versicherte ihr, dass er nicht ersticke. Er stehe vermutlich kurz vor dem Sterben. Margrit G.  ging ins Wohnzimmer, stellte klassische Musik ein. Sie richtete sich auf eine lange Nacht ein. Aber schon kurz nach Mitternacht tat ihr Mann seinen letzten Atemzug. Er starb friedlich.

«Ich weinte viel in dieser Nacht, ich zündete eine Kerze an, ich verabschiedete mich von ihm.»

Margrit G. rief erneut aufs Pikett-Handy an. Marianne Unger machte sich auf den Weg, um ihr zu helfen, ihren Mann zu waschen und anzukleiden. Ob sie jemanden anrufen solle, fragte sie die Witwe nach getaner Arbeit. Nein, sagte diese. Sie wolle jetzt allein sein mit ihrem Mann. Die Kinder werde sie erst am Morgen informieren, den Hausarzt ebenso. «Ich weinte viel in dieser Nacht, ich zündete eine Kerze an, ich verabschiedete mich von ihm.» Sie fotografierte ihn mit ihrem Handy. Auf dem Bild sieht er friedlich aus.

Der Anfang vom Ende

Werner G. hatte schon viel hinter sich, als er mit 77 Jahren die Diagnose erhielt, die ihm schliesslich den Lebenswillen raubte: Er erfuhr Ende September 2017, dass er Metastasen in beiden Lungenflügeln und auf der Leber hat. Für ihn waren diese Ableger des Darmkrebses, der eineinhalb Jahre zuvor operiert wurde, das Todesurteil. Er sagte zu ihr, er wolle sterben. Sie versprach ihm, dass er zu Hause bleiben könne, so lange es für sie möglich sei. Fünf Wochen später war er tot.

Eine erneute Lungenentzündung am letzten Abend – er hatte fast 40 Grad Fieber – hatte sein Ende beschleunigt. Gemeinsam mit dem Hausarzt hatten sie beschlossen, nichts mehr dagegen zu tun.

Die Jahre zuvor hatte er viel durchmachen müssen. Er wusste schon länger, dass seine Nieren verkleinert waren und ihm irgendwann eine Transplantation oder die Dialyse bevorstehen würden. Februar 2003 begannen die Voruntersuchungen für eine Transplantation. Bei dieser Gelegenheit entdeckte man einen Schatten auf seiner Lunge: Er hatte einen etwa fünf Zentimeter grossen Tumor auf dem linken Lungenflügel. Dieser wurde operativ entfernt. Juni 2005 verschlechterte sich sein Zustand so stark, dass er an die Dialyse musste. Ende 2005 erhielten sie dann das OK, dass seine Frau ihm eine Niere spenden könne.

«In der Phase nach der Transplantation entstanden seine besten Bilder.»

Die Nierentransplantation fand am 26. Januar 2006 statt. Margrit G. weiss alle wichtigen Daten auswendig. Die Operation verlief gut. Das Jahr danach sei eine «Bilderbuchzeit» gewesen, sagt sie. «In dieser Phase entstanden seine besten Bilder.»

Werner G. war Architekt gewesen. Der Autodidakt hatte nicht an einer Uni oder Fachhochschule studiert, sondern ursprünglich eine Maurerlehre abgeschlossen, sich zum Bauleiter und dann zum Architekten weitergebildet. Er war aber auch ein ernstzunehmender Künstler. In frühen Jahren aber vor allem nach der Transplantation malte und zeichnete er tagtäglich. Davon zeugen die vielen Bilder an den Wänden der hellen Neubau-Wohnung und die Plastiken aus Metall und Holz. Es sind dünne, hochgeschossene Gestalten, die an Giacometti-Figuren erinnern. Anfang der Siebzigerjahre brachte er sich selbst das Schweissen bei, und es entstand unter anderem ein grosser Schwan, der seine Flügel spreizt. Er steht heute in der Wohnung.

«Ich hätte putzen sollen», sagt sie, «aber ich backe lieber».

In seinen Kunstwerken ist er heute noch, ein halbes Jahr nach seinem Tod, in der Wohnung präsent. Margrit G. stellt einen frisch gebackenen Rhabarberkuchen auf den Tisch. Er ist noch lauwarm. «Ich hätte putzen sollen», sagt sie, «aber ich backe lieber». Dass die 66-Jährige aus Belgien kommt, hört man an einem leichten, frankophonen Akzent in ihrem Hochdeutsch. Am Ende ihrer Ausbildung als Physiotherapeutin suchte eine Schweizer Reha-Klinik Fachkräfte. Sie arbeitete erst eine Woche im Kurort, als sie ihren zukünftigen Mann kennenlernte. Er hatte die Bauleitung für die neue Klinik inne.

Sie waren 40 Jahre verheiratet. Bis vor der Krankheit war es immer eine gleichberechtigte und enge Partnerschaft gewesen. «Wir mussten durch dick und dünn», erzählt Margrit G.. Es war nicht immer leicht.

Das Manko

Ein epileptischer Anfall beendete besagte «Bilderbuchzeit» jäh, am 15. Mai 2007. Werner G. blieb acht Wochen lang in einem epileptischen Zustand. Die Ärzte versetzten ihn ins künstliche Koma, in einen Tiefschlaf, in eine Vollnarkose. Dazwischen versuchten sie ihn immer wieder zu wecken. Nach acht Wochen gelang es ihnen schliesslich die Hirnaktivität zu normalisieren und zu stabilisieren. Aber Werner G. musste alles wieder von Grund auf lernen: aufstehen, gehen, essen und zeichnen.

Der Grund für die epileptischen Anfälle war gemäss Ärzteschaft ein Immunsuppressivum, ein Medikament das seinen Körper davor bewahrte, die gespendete Niere abzustossen.

«Er war nicht mehr derselbe, es blieb ein Manko. Schlimm war, dass es ihm bewusst war.»

Seine Frau brachte ihm Material zum Zeichnen und Malen in die Klinik. Seine ersten Versuche sahen aus wie das «Kribbelkrabbel» eines Kleinkindes. Es entstand Bild um Bild, das Pflegepersonal hängte jedes ans Fenster. Zum Schluss konnte der Patient zwar wieder zeichnen, erreichte aber nie mehr das Niveau von früher. Ebenso verhielt es sich mit seiner Kognition. «Er war nicht mehr derselbe, es blieb ein Manko. Schlimm war, dass es ihm bewusst war.»

Sie nahm ihn wieder nach Hause, unterstützte ihn, wo sie konnte. Er lernte wieder seinen Alltag selbständig zu bestreiten. Manches ging aber nicht mehr. Margrit G. sagt: «Für einen Mann ist es sicher schwierig, von seiner Frau derart abhängig zu sein.»

Nahe am Burnout

Die vielen Jahre der Krankheit waren auch für die Ehe nicht einfach. Es gab einige Tiefs. Aber trotz aller Widrigkeiten schweisste die Krankheit sie auch zusammen. 2009 war Margrit G. nahe an einem Burnout. Die Krankheit ihres Mannes, die Teilzeitarbeit als Physiotherapeutin, das Haus, der Garten, es war einfach zu viel. Sie zogen die Konsequenz und beschlossen, das Haus zu verkaufen; notabene das Haus, das er selber entworfen und in dem er kurz vor der Transplantation das ganze Erdgeschoss mit Parkett ausgelegt hatte.

Bis das Ehepaar dann in der Eigentumswohnung ankam, in der sie noch heute wohnt, war eine Zwischenstation nötig. Das bedeutete zwei Mal umziehen, mit einem pflegebedürftigen Mann.

Als sie im Januar die Weihnachtsdekoration in den Kisten verstaute, senkte sich die Trauer über sie. «Es war leer, er fehlte.»

«Es war ein langer Weg», sagt sie beim Erzählen. Er habe sich immer wieder zurück ins Leben gekämpft, sei ein «Stehaufmännchen» gewesen. 2016 wurde dann auch noch ein bösartiger Tumor im Enddarm entdeckt. Dieser wurde ihm entfernt, und er musste fortan mit einem künstlichen Darmausgang und einem Blasenkatheter leben. Das habe er alles akzeptiert.

Sie pflegte ihn mit einer Professionalität, die auch ihrem Beruf geschuldet ist. Er starb mit 77 Jahren, sie ist 66 Jahre alt.

Nach seinem Tod war sie mit Beerdigung und allem Organisatorischem sehr beschäftigt. Dann folgten Advents- und Weihnachtszeit, beide liebt Margrit G. Sie buk wie jedes Jahr ihr Weihnachtsgebäck, erhielt Besuch und wurde eingeladen. Als sie im Januar die Weihnachtsdekoration in den Kisten verstaute, senkte sich die Trauer über sie. «Es war leer, er fehlte.» Ende Januar raffte sie eine heftige Magen-Darm-Grippe regelrecht dahin. Margrit G. fiel in ein Loch.

Es bleibt eine Leerstelle

Seit dem Frühling geht es ihr aber wieder viel besser. Sie arbeitet immer noch ein paar Stunden bei sich zu Hause. Sie macht mit ihrem E-Bike kleinere Touren, trifft sich mit Bekannten, nimmt an organisierten Wanderungen teil und geniesst die unbeschwerte Freizeit.

Diese vierzig Jahre an der Seite von Werner gingen jedoch nicht spurlos an ihr vorüber, vor allem die Zeit nach der Epilepsie. Es bleibt eine Leerstelle. Sie muss sich erst an ihr neues Leben gewöhnen.

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