«Das Wichtigste in der Medizin ist die Menschlichkeit»

14.03.22

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Hausärztin aus Stäfa

Ruth Burkhard ist eine Hausärztin, die gerne für schwerkranke Menschen da ist und weiss, dass Kommunikation und Beziehung essenziell sind in ihrer Begleitung. Von Palliative Care ist sie schon lange begeistert.

«Ich habe nicht so fest ein Problem damit, jemanden nicht mehr heilen zu können», sagt Ruth Burkhard und lächelt. Sie meint damit: Sie ist eine Ärztin, die für schwerkranke Menschen da sein will, die «Reparaturmedizin» sei nicht so ihr Ding. Die 57-Jährige empfängt einen in ihrer lichtdurchfluteten Praxis. Sie setzt sich mit locker verschränkten Beinen auf ihren Bürostuhl. Wenn ihr eine Aussage wichtig ist, unterstreicht sie sie mit grosszügigen Gesten.

Seit knapp zwanzig Jahren führt sie, die mit ihrem Ehemann und ihren zwei erwachsenen Kindern in Männedorf wohnt, eine Hausarztpraxis im Bezirk Meilen. Seit 2007 ist sie in der Gerbi-Praxis, einer Gemeinschaftspraxis in Uerikon, eingemietet. Diese befindet sich auf dem historischen Gerberei-Areal in der Ortschaft Uerikon im Maschinenhaus. Uerikon gehört politisch zu Stäfa und liegt am rechten oberen Zürichsee.

Bei Zürcher Pionierinnen gelernt

Ruth Burkhard sammelte als Ärztin vergleichsweise früh Erfahrungen in der Palliative Care. Nach dem Erreichen ihres Facharzttitels arbeitete sie von 1999 bis 2003 im Hospiz Zürcher Lighthouse. Dieses befand sich damals im Übergang vom Aids- zum allgemeinen Hospiz. Burkhard schwärmt von den Weiterbildungen bei Pionierinnen wie der Zürcherin Susanne Porchet-Munro. Ihr gefiel vor allem, dass man eine Volksbewegung in die Gesundheitsversorgung implementierte und ihr sagte die Interprofessionalität zu. «Ich arbeitete schon als Assistenzärztin gerne im Team.»

Heute begleitet Burkhard als Hausärztin im Schnitt fünf Palliativpatientinnen und -patienten pro Jahr, die zu Hause sterben wollen. Je nach Wohnort der Betroffenen arbeitet sie mit dem Palliative Care Team der Gesundheitsversorgung Zürcher Oberland GZO, das dem Spital Wetzikon angeschlossen ist, oder mit Palliaviva zusammen – und natürlich mit der lokalen Spitex. Da sie auch noch als Heimärztin im Alterszentrum Lanzeln in Stäfa amtet, kommen dort noch um die zwanzig Menschen dazu, die sie jährlich bis zu ihrem Ende begleitet. Ebenfalls zusammen mit der Heimpflege, wie sie als Verfechterin der Interprofessionalität betont.

Unsere Hauptarbeit ist, zu bestätigen, dass Palliativpatientinnen und -patienten schwerkrank sind.» Ruth Burkhard, Hausärztin

Ihr Ziel in der Palliative Care sei, ein «Ende mit nicht allzu viel Schrecken zu ermöglichen». Typische Symptome wie Schmerz, Atemnot oder Angst will sie so gut wie möglich lindern. Aber sie ist ehrlich: «Wer sagt denn, dass uns ein Ende ganz ohne Leid zusteht?»

Burkhard erzählt von einer Patientin, die Jahre lang in onkologischer Behandlung war und von ihr als Hausärztin mitbetreut wurde. Die Frau sei über lange Zeit eher wegen nebensächlichen Beschwerden in die Praxis gekommen. Als sie am Lebensende zu Hause betreut wurde, fanden sie und ihr Mann zunächst, die Hausärztin müsse nicht extra kommen, sie könne ja sowieso nichts mehr tun. Ruth Burkhard ging trotzdem regelmässig auf Hausbesuch. «Ich sagte, dass ihre Wohnung auf meinem Heimweg liegt. Ich habe mein Stethoskop dabei und untersuche Menschen in palliativen Situationen jeweils, weil es wichtig ist festzustellen, wo sie medizinisch stehen. Die Hauptarbeit ist aber, zuzuhören und ihnen reinen Wein einzuschenken. Es geht darum, zu bestätigen, dass sie schwerkrank sind, an dieser Krankheit sterben werden und das, was diese Mitteilung auslöst, mitzutragen. Das ist unser Urjob.»

Sie muss zudem die schlecht planbare und oft aufwändige Behandlung von Palliativpatientinnen und -patientin in ihrem dicht getakteten Alltag als Hausärztin unterbringen. Darin sieht sie aber kein grosses Problem. Es sei eine Frage der Priorisierung. «Wenn jemand schwerkrank wird, weiss ich: Jetzt ist Feierabend-Arbeit angesagt.» Arbeite sie einen Abend länger, könne sie die Sprechstunde am nächsten Morgen etwas später ansetzen. Ausserdem gewichtet sie die Palliativpatientinnen und -patienten höher. «Schnupfen oder Knieschmerzen behandle ich dann zwar sorgfältig, aber vielleicht etwas schneller.» Hausbesuche kann sie als Hausärztin grosszügig abrechnen. Wo ihr die Tarmed-Tarife Grenzen setzen, ist bei der «Arbeit in Abwesenheit des Patienten», wofür sie nur noch dreissig Minuten pro drei Monate zur Verfügung hat. Hier müsse man eine Mischrechnung machen und könne halt einfach nicht jede Minute verrechnen. Um schwerkranke Menschen kümmert sie sich mit Herzblut. «Ich hätte auch Onkologin werden können.»

Kommunikation und Beziehung

Kann die Hausärztin einer Person also problemlos mitteilen, dass sie sterben wird? Sie überlegt. Es komme auf das Gegenüber an. «Für eine solche Mitteilung braucht es Raum, Zeit und einen anderen Modus.» In Kommunikation hat sie sich bereits als Studentin geschult. Sie nahm ab dem zweiten Studienjahr an freiwilligen Anamnese-Gruppen teil. In diesen Gesprächsrunden erörterten die späteren Ärztinnen und Ärzte vor allem, was beziehungstechnisch zwischen ihnen und den Patientinnen und Patienten abläuft. Wichtig sei diese Analyse vor allem, wenn negative Gefühle wie Wut oder Angst auftauchten. Burkhard ist immer noch Mitglied einer sogenannten Balint-Gruppe, einer Gesprächsgruppe von Fachpersonen, die regelmässig über Arzt-Patienten-Beziehungen sprechen.

Ihre Beschäftigung mit den Themen Kommunikation und Beziehung war stets freiwillig. Erhalten diese im Medizinstudium genügend Raum? Ihr Sohn habe kürzlich begonnen, Medizin zu studieren, erzählt sie. In einer Ethik-Vorlesung habe er mit Dialyse-Patientinnen und -Patienten sprechen müssen. Sie hat also Hoffnung, was die kommunikativen Fähigkeiten künftiger Ärztinnen und Ärzte betrifft. Es habe schon früher pionierhafte Lehrer an den medizinischen Fakultäten gegeben. Zum Beispiel hielt einer ihrer Professoren eine Vorlesung in psychosozialer Medizin. «Von 250 Studierenden nahmen nur dreissig teil. Der Rest fand, solche Dinge könne man nicht lernen oder üben beziehungsweise wisse man von selbst.»

Eigentlich könnten Kardiologinnen und Kardiologen viel Gutes bewirken, der Tod ist aber immer noch eine Kränkung für ihr Selbstverständnis als Ärztin oder Arzt.»

Der Hauptgrund, weshalb Palliative Care immer noch ein Schattendasein fristet in der Medizin, habe mit einem gesellschaftlichen Druck zu tun, sagt Burkhard. «Sterben, Tod und unheilbare Krankheit passen nicht in unsere Selbstoptimierungsgesellschaft.» In einer Weiterbildung über Geriatrie und Kardiologie, an der sie kürzlich teilnahm, kam der Tod nur verschämt zur Sprache. «Dabei wären chronisch herzkranke Menschen doch prototypische Patienten der Palliativmedizin. Eigentlich könnten Kardiologinnen und Kardiologen viel Gutes bewirken, der Tod ist aber immer noch eine Kränkung für ihr Selbstverständnis als Ärztin oder Arzt.»

Ruth Burkhard holt nun beim Kaffee zu den ganz grossen Themen aus: Um eine Verbesserung in der Medizin zu erreichen müsste man erstens der Spezialisierung entgegenwirken. Sie schreibt ab und zu ein Mail an einen Spezialisten und fragt ihn, ob die invasive Behandlung, die er vorschlägt, wirklich angezeigt sei. Eine Antwort erhält sie selten auf ihre kritischen Mails. «Ich muss als Hausärztin oft Behandlungen absegnen, ohne die Indikation dafür vorbehaltlos mittragen zu können.» Ihren Patientinnen und Patienten sage sie in solchen Fällen stets: «Ich verdiene ebenso viel, ob Sie die Operation machen oder nicht.» Sie verabscheue eine am Gewinn orientierte Medizin. «Für mich ist die Menschlichkeit das Wichtigste in unserem Fach.»

Interprofessionalität stärken

Zweitens sieht Burkhard eine Quelle von Schwierigkeiten im stark unterschiedlichen Berufsverständnis und in der starren Arbeits- und Rollenverteilung zwischen pflegerischem und ärztlichem Personal. Die Kommunikation und vor allem die gegenseitige Wertschätzung zwischen diesen zwei Gruppen müsse sich verbessern. Sie denkt, es wäre ein grosser Vorteil, wenn angehende Pflegende und Ärztinnen und Ärzte bereits in der Ausbildung gemeinsame Tracks hätten und sich austauschen und näher kommen könnten. «Ich bekam kürzlich ein Pflege-Lehrbuch in die Hand. Das erste Drittel handelte nur von Selfcare. In meiner Ausbildung dagegen war die Selbstfürsorge praktisch nie ein Thema.» Am Pflegeberuf wiederum kritisiert sie, dass sich Fachpersonen, die die Karriereleiter erklimmen, sich vom Patientenbett entfernten. Pflegedienst-Leiterinnen und -Leiter arbeiten häufig nur noch am Schreibtisch, wohingegen auch Chefärztinnen und –ärzte auch noch nachts und in Notfällen und vor allem in besonders belastenden Situation ans Krankenbett gerufen werden.

Blickt Ruth Burkhard auf ihr eigenes Lebensende, sieht sie diesem gelassen entgegen. «Ich möchte alt werden, weil ich das Leben spannend finde. Ich habe kein Problem damit, in ein Heim zu gehen. Ich werde nämlich gerne umsorgt.» Sie schickt voraus, dass sie noch nie ernsthaft krank war. Als sie vor drei Jahren ihren Arm mehrfach brach und fünf Tage im Spital bleiben musste, habe sie «gechillt». Sie fand es spannend, einmal auf der anderen Seite zu sein. Kleine Dinge seien wichtig geworden, zum Beispiel, dass das Nachttischli immer auf der falschen Seite stand. Irgendwann erbarmte sich eine Pflegende und stellte es um. Oder dass der verletzte Arm richtig gelagert wurde. Dies konnte offenbar erst der Physiotherapeut. Fachpersonen, die zuhören und sich Zeit nehmen, können kleine, aber wichtige Dinge bewirken.

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