«Ich nehme mir bewusst Zeit für mich»
06.05.25

Am Eiger Ultra Trail in der Jungfrau-Region im Sommer 2024.
Carmen Cereghetti ist eine der jüngeren Mitarbeiterinnen von Palliaviva. Wie geht sie mit belastenden Situationen im Job um? Was tut sie für die Work-Life-Balance? Im Interview gibt sie Antworten.
Das Gespräch gibt es hier auch als Podcast zu hören.
Carmen, Du wirst dieses Jahr 33 und arbeitest seit Sommer 2023 bei Palliaviva. Hattest Du in letzter Zeit einen prägenden Einsatz?
Ja, gerade die laufende Woche war für mich sehr emotional, weil ich eine Patientin begleiten durfte, die noch relativ jung war. Sie hatte Jahrgang 1984, das heisst, sie war nicht viel älter als ich. An ihren letzten beiden Lebenstagen durfte ich diese Patientin noch zu Hause besuchen. Es ging ihr deutlich schlechter als in den Tagen davor, und wir haben gemeinsam entschieden, dass zu Hause nicht mehr der richtige Ort für sie ist. Ich habe sie dann ins Spital eingewiesen, weil sie das so gewünscht hat. Für sie war wichtig, dass sie sich sicher fühlt und sie 24 Stunden betreut wird. Das war zu Hause nicht mehr gewährleistet. Einen Tag später wollte ich sie dann im Spital besuchen, um zu schauen, ob alles gutgegangen ist. Dabei erfuhr ich, dass sie bereits verstorben war. Für mich war die Situation unter anderem deshalb sehr emotional, weil sie drei Kinder hinterlässt. Sie war eine spannende und eindrückliche Persönlichkeit, eine enorme Kämpferin, die mich sehr beeindruckt hat.
Warum habt Ihr gemeinsam entschieden, dass es zu Hause nicht mehr geht?
Sie hatte schon lange entschieden, dass sie nicht daheimbleiben würde, wenn es ihr zunehmend schlechter ginge. Bei ihr war keine Spitex involviert. Sie lebte mit ihrem Mann zusammen, der in seinem Job sehr engagiert war und nicht immer zur Verfügung stand. Um so lange wie möglich zu Hause zu bleiben, braucht es ein gewisses Netzwerk an Unterstützung. Wir von Palliaviva helfen, dieses Netz aufzubauen.
Du sagtest, die Patientin hinterlasse drei Kinder. Was ist jetzt mit den Kindern?
Die Kinder sind im Teenageralter, ich glaube, zwischen 11 und 16. Ich habe sie selber nie kennengelernt. Der Patientin war es wichtig, psychologische Betreuung für die Kinder zu organisieren, für die Zeit nach ihrem Tod. Ich half ihr bei den Vorabklärungen und der Organisation. In diesem Fall war der Einbezug eines Sozialdienstes und einer Kinderpsychologin ein Thema. Auch eine Seelsorgerin wurde beigezogen.
Du hast erwähnt, dass diese Situation für Dich sehr emotional war. Wie äussert sich das bei Dir?
Ich merke, dass es mich berührt und etwas mit mir macht. Ich habe dann vielleicht ein grösseres Redebedürfnis und tausche mich mehr mit meinen Teamkolleginnen aus. Mit der Patientin, von der ich erzählt habe, war ich in einem engen Austausch. Ich sagte ihr, dass ich denke, sie würde nach dem Spitalaufenthalt nicht noch einmal nach Hause zurückkehren. Sie sah mich dann an und sagte, das sei ihr absolut bewusst. Augenblicke wie diese sind sehr berührend. Manchmal ist man auch mit den Patientinnen oder Patienten traurig.
Wir sprechen nachher noch darüber, welche Strategien es gibt oder welche Strategien Du hast, um damit zurechtzukommen. Lass uns zuerst ein wenig zurückblättern: Wie bist Du zu Palliaviva gekommen?
Vor meiner Anstellung bei Palliaviva arbeitete ich längere Zeit bei einer örtlichen Spitex, wo wir immer wieder einmal mit Palliaviva in Kontakt waren. Daher kannte ich die Arbeit schon. Ich habe mich in dieser Zeit in der Spitex weitergebildet, weil mich die Palliativpflege schon länger interessierte. Und schliesslich habe ich mich entschieden, eine neue Herausforderung anzunehmen.
Wie erklärst Du jemandem in Deinem Bekanntenkreis, was Palliaviva macht?
Ich erzähle, dass wir für Menschen da sind, die an einer unheilbaren Krankheit leiden, und dass wir sie vor allem begleiten, wenn belastende Symptome auftreten, die auch komplex werden. Dies etwa, wenn Schmerzen oder Atemnot auftreten. Komplex bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich diese Symptome rasch und unkontrolliert verändern, so dass die bisher getroffenen Massnahmen nicht mehr ausreichen. In diesen Situationen muss man schnell reagieren und Kontakt mit anderen involvierten Spezialistinnen und Spezialisten aufnehmen. Wir übernehmen auch viele organisatorische und koordinative Aufgaben und sind dafür da, die Fäden zusammenzuhalten. Ganz wichtig ist natürlich, mit den Patientinnen und Patienten zu besprechen, was passiert, wenn sich die Situation verändert und sich ihr Zustand verschlechtert. Wir möchten ihre Wünsche und die Wünsche der Angehörigen kennen. Die Angehörigen sind ein wichtiger Teil in unserer Arbeit. Sie übernehmen oftmals viel Verantwortung bei der Betreuung und sind stark belastet. Uns ist es ein wichtiges Anliegen, dass es ihnen gut geht.
Die Vernetzung ist mega-toll.»
Wenn Du mit Freunden oder Bekannten über deine Arbeit redest, die nichts mit Palliative Care zu tun haben: Gibt es da auch Vorurteile oder falsche Vorstellungen von dem, was Du machst?
Die gibt es durchaus. Mir fallen dazu zwei Aspekte ein: Manche Leute denken, dass wir tagtäglich nur mit dem Tod zu tun haben, beziehungsweise sie setzen unsere Arbeit mit der einer Sterbehilfe-Organisation gleich, die Menschen beim Sterben hilft. Vielen Menschen ist ausserdem nicht klar, wo der Unterschied zwischen Palliaviva und der lokalen Spitex liegt.
Und wo liegt der Unterschied?
Ein Unterschied ist, dass die normale Spitex die sogenannte allgemeine Palliativpflege macht. Wir von Palliaviva sind spezialisiert, das heisst, wir unterstützen die Spitex oder sind ergänzend zur Spitex tätig, wenn eine Situation komplexer wird und jemand eine vollumfänglichere Unterstützung braucht.
Als Du bei Palliaviva begonnen hast, hattest Du bestimmt gewisse Vorstellungen davon, wie diese Arbeit sein wird. Haben sich diese bestätigt?
Ich habe vorher schon viel mit Palliaviva zusammengearbeitet und wusste schon viel über die Arbeit. Was mich aber überrascht hat – und was ich mega-toll finde – ist die Vernetzung mit unterschiedlichen Professionen, sei das mit Ärztinnen und Ärzten, Spitälern oder auch anderen Institutionen. Im Austausch versuchen wir, das Bestmögliche für die Patientinnen und Patienten zu erreichen.
Du bist häufig nur am Telefon im Austausch, Du bist sehr viel alleine unterwegs und musst vieles allein entscheiden. Wie gehst Du mit dieser Verantwortung um?
Wir sind alleine unterwegs, das ist richtig, und das finde ich auch schön. Die Verantwortung jedoch tragen wir nie ganz alleine. Alle unsere Handlungen sind ein Stück weit abgesprochen mit einem Hausarzt, einer Hausärztin, einer Onkologin oder einem Onkologen. Wir sind auch im Team im ständigen Austausch miteinander. Wenn ich unsicher bin, kann ich jederzeit jemanden anrufen und die Situation besprechen.
Du bist seit gut eineinhalb Jahren bei Palliaviva. Gab es in dieser Zeit einen ganz besonderen Einsatz, der Dich beeindruckt hat?
Ich könnte jetzt von verschiedenen Situationen erzählen; es gab immer mal wieder beeindruckende Einsätze. Aber einer sticht definitiv heraus: Das war im letzten Sommer, als ich einen Pikettdienst hatte und relativ viel los war. Ich war bereits auf einem Notfalleinsatz, es war ein relativ warmer Abend. Nach dem Einsatz ging ich zum Auto, wollte nach Hause und fuhr los in Richtung Gubrist, wo ich zuerst einmal im Stau stand. Da klingelte das Telefon wieder. Ich bekam einen Anruf von einem Herrn, der mir ganz ruhig erklärte, seine Frau liege im Sterben. Er sagte, er betreue sie zu Hause und brauche jetzt Unterstützung.
Du hast Dich also auf den Weg gemacht?
Ja, ich fuhr los, hielt unterwegs kurz an und verschaffte mir mithilfe des Computers kurz einen Überblick über die Patientin und die Situation. Ich loggte mich ein und musste zuerst leer schlucken, weil es sich auch hier um eine sehr junge Patientin handelte. Sie litt an einem ganz aggressiven Brustkrebs. Vor Ort angekommen, öffnete mir der Mann die Türe und sagte, seine Frau sei soeben verstorben. Ich ging dann mit ihm hoch und realisierte in diesem Moment, dass auch noch kleine Kinder vor Ort waren. Sie hatte zwei kleine Zwillinge im Alter von 4 Jahren und einen etwa 6-jährigen Buben. Ich besprach dann mit dem Mann die weiteren Schritte. Das bedeutet, dass man in dieser Situation einen Arzt avisiert, dass man die verstorbene Person wäscht und ankleidet und mit dem Bestatter die ganzen Abläufe in Gang kommen.
Warum war der Einsatz besonders eindrücklich für Dich?
Einerseits war es die Situation, wie der Mann mit seiner verstorbenen Frau umging. Man spürte richtig, welche Verbindung die beiden miteinander gehabt hatten. Er erzählte mir dann auch, wie sie die Krankheitszeit alleine gemanagt und dass sie keine Unterstützung vonseiten der Spitex gebraucht hätten. Sie gingen den Weg miteinander. Dann suchte er ihr ein mega-herziges Sommerkleid heraus, streichelte sie zwischendurch immer wieder und sagte ihr, wie froh er sei, dass sie es jetzt endlich geschafft habe. Gleichzeitig rannten die Kinder im Zimmer herum und sagten in einer grossen Selbstverständlichkeit, das Mami sei jetzt gestorben. Das war eine sehr spezielle Situation für mich. Der Mann erzählte mir, er habe die Kinder vorbereitet. Seine Frau und er hätten immer wieder mit ihnen darüber gesprochen. Das merkte man. Er half dann den Kindern, die Zähne zu putzen und das Pyjama anzuziehen, es war mittlerweile spät geworden. Ich half ihm schliesslich dabei, die Kinder ins Bett zu bringen. In der Summe der Dinge war da für mich einerseits das ganze Leid, aber andererseits auch das Schöne, in dieser Situation dabei zu sein und ihm beistehen zu können. Er hat sich sehr bei mir bedankt.
Mein Mami war schon sehr früh sehr krank.»
Die dieser Geschichte liegt neben dem Schönen auch etwas wahnsinnig Trauriges. Wie hält man das als junge Frau aus? Ich nehme Dich im Alltag als sehr fröhlich wahr …
Diese Frage finde ich immer sehr spannend. Durch die Situationen, die ich erlebe, habe ich ein ganz anderes Bewusstsein und einen anderen Blick aufs Leben gewonnen. Genau aus diesem Grund habe ich vielleicht diese Lebensfreude. Ich habe auch gelernt, die Zeit zu nutzen und mir bewusst zu sein, dass es nicht selbstverständlich ist, dass ich mit 33 gesund hier sitze und hoffentlich noch ganz viel Lebenszeit vor mir habe.
Trotzdem hat das Thema eine gewisse Schwere: Jedes Mal, wenn Du arbeiten gehst, weisst Du, da kommt etwas Schweres auf Dich zu. Wie lehrt man, damit umzugehen?
Es ist auch immer eine Frage der Perspektive. Was ist denn schwer? Nur weil jemand eine unheilbare Krankheit hat, heisst das nicht, dass die ganze Situation schwer ist. Niemals ist jeder Einsatz oder ein ganzer Arbeitstag nur schwer. Es gibt auch ganz viel Positives und Schönes in unserer Arbeit. Das beste Beispiel ist für mich: In 99 Prozent der Fälle gehe ich nach einem Einsatz weg und konnte etwas verändern, so dass es der Patientin oder dem Patienten besser geht und Angehörigen entlastet sind. Ich habe also etwas Positives erreicht. Das soll mein Fokus sein. Wenn ich das erreiche, ist das mega-schön, dann empfinde ich meine Arbeit nicht als schwer.

Als Carmen Cereghetti Mitte 20 war, starb ihre Mutter.
Ich weiss, dass Du einen persönlichen Bezug zum Thema hast. Du hast vor sechs Jahren Deine Mutter verloren.
Ja, das war keine einfache Zeit für mich, aus der ich rückblickend aber auch ganz viel ziehen konnte. Mein Mami war schon sehr früh sehr krank. Sie litt jahrelang an COPD, einer chronischen Lungenerkrankung, und sie bekam zusätzlich auch noch Lungenkrebs. Als einzige Tochter begleitete ich sie in dieser Zeit sehr intensiv, auch zu den Therapien. Ich war für mein Empfinden noch sehr jung, als ich mitbekam, dass es meiner Mutter nicht gut geht. Und ich übernahm ein Stück weit sicher auch mehr Verantwortung, als es ein Teenager im Normalfall tut. Später, als sie die Krebsdiagnose bekam, war ich Mitte 20, wohnte allein, arbeitete bei der Spitex, unterstützte sie nebenbei und war für sie da.
Was hat sich Dir besonders eingeprägt?
Das war der Moment, in dem es ihr sehr, sehr schlecht ging und man entschied, dass sie nicht allein daheimbleiben kann. Sie kam ins Spital, und dort, auf einer Akutabteilung, konnte man nicht so gut auf ihre Bedürfnisse eingehen. Das Ziel war deshalb, dass sie in die Palliativstation des Spitals Affoltern eintreten kann. Ich hatte meine Ausbildung als Fachfrau Gesundheit im Spital Affoltern absolviert und wusste, dass die Atmosphäre auf der dortigen Palliativstation ganz anders ist. Es gab aber über längere Zeit keinen Platz, so dass die Zeit, in der sie im Spital bleiben musste, ganz schwierig zum Aushalten war. Als einzige Bezugsperson war ich auch in einem Rollenkonflikt: Ich war Tochter und Pflegende zugleich. Eines Tages konnte sie dann auf die Palliativstation eintreten, wo sie sich sehr wohlfühlte. Bald darauf starb sie auch dort.
Du warst damals also Mitte 20. Wie hast Du das verarbeitet?
Ich hatte mich vorher durch die ganze Geschichte bereits mit der Situation auseinandergesetzt und war ein Stück weit darauf vorbereitet. Ich durfte auch dabei sein, als sie starb, und konnte gut von ihr Abschied nehmen. Aber im Nachhinein war es ein langer und intensiver Prozess, das zu verarbeiten. Man hört oftmals von den Angehörigen, sie seien auch froh, dass eine Person gehen konnte. Das klingt eigenartig, aber ich kann das nachvollziehen. Meine Mutter litt am Schluss wirklich, hatte Mühe mit dem Atmen, und entsprechend war es auf eine Art auch eine Erlösung. Dieser Gedanke hat mir geholfen, ihren Tod zu verarbeiten. Das ist ein Prozess, der andauert.
Welchen Stellenwert hat dieses Erlebnis mit Deiner Mutter in Deiner Arbeit?
Was geschah, zeigte mir damals, wie wertvoll eine spezialisierte Palliativpflege ist und wo es vielleicht noch Lücken im System gibt. Das Erlebte gab mir für meinen Alltag auch den Blick aus der Perspektive einer Angehörigen. Ich behaupte mal, dass mir das zum Teil auch hilft, mich in die Angehörigen hineinzuversetzen. Die Mischung aus dem Professionellen und dem empathischen Einfühlen aus der Erfahrung ist ein wertvoller Teil für meine tägliche Arbeit.
Ich setze mir bewusst Ziele.»
Du hast ein 80-Prozent-Pensum bei Palliaviva. Was machst Du, wenn Du frei hast?
Wir können unsere Arbeitszeit teilweise flexibel gestalten, aber Freitage sind Freitage. Ich bin ein Mensch, der die Erholung und die Regeneration aktiv gestaltet. Das heisst, ich bin sehr gerne draussen, bewege mich sehr gerne, bin sportlich unterwegs und brauche immer meine Herausforderungen, die mir helfen, mich wieder auf andere Sachen zu fokussieren. Ich setze mir auch bewusst Ziele.
Was heisst das konkret? Du hast jetzt konkret auch wieder ein Ziel, richtig?
Ja, genau. Letztes Jahr habe ich das erste Mal an einem Berglauf-Wettkampf im Trailrunning, teilgenommen. Das hat mich begeistert, und ich habe mich entschieden, mich dieses Jahr für eine längere Distanz anzumelden. Zurzeit bin ich gerade sehr motiviert bei der Vorbereitung, damit ich im Juli in Topform bin für 53 Kilometer und knapp 3500 Höhenmeter.
Ist das für Dich eine Strategie, um auch abzuschalten von Schwerem und Schönem bei der Arbeit?
Sicher auch. Unabhängig davon gibt mir der Sport aber einfach sehr viel. Ich halte mich gerne in der Natur und in den Bergen auf, das gibt mir Ruhe und bringt mich auf andere Gedanken. Sicher spielt hier auch mit, dass ich mir bewusst Zeit für mich nehme, weil ich weiss, dass sie begrenzt ist.

Sport sorgt für Glücksgefühle.