Was wirklich zählt

15.03.18

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Täglich am Tablet oder Smartphone zu sein, gehört für den Juristen Hartmut auch zum Krankenalltag. Hier im Spital Affoltern (Bild: sa).

Das ist die Geschichte eines rationalen Kopfmenschen, der durch eine schwere Krankheit und einen langen Leidensweg zur Erkenntnis gelangt ist, dass ein liebevoller Händedruck sehr, sehr viel bedeuten kann.

Hartmut* sucht nachts, wenn er in seinem Spitalbett schläft, jeweils nach der Hand seiner Frau. Sie ist die Person, deren Support ihm am meisten hilft. Die ehemalige Diabetesfachfrau unterstütze ihn mit grosser Kompetenz und noch grösserem Einsatz, sagt er. Nicht zuletzt würden sie sich als Paar sehr gut verstehen. «Mir ist bewusst geworden, wie wichtig emotionale Nähe, Berührungen und, ja, Liebe sein können.» Es sei wichtig, dass das jeder da draussen weiss. Für ihn sei das neu. «Ich bin ja eher der nüchterne Jurist.»

«Ich fasse zusammen», hat Hartmut gesagt und mit diesem Worten keine Verwaltungsratssitzung beendet, sondern ein Interview eröffnet, bei dem er Einblick in sein Leben mit einer unheilbaren Krankheit gibt. In einer nüchternen Sprache, durchdrungen von schwarzem Humor, protokolliert er mündlich die letzten vier Jahre, die sich hauptsächlich um den Krebs und seine Folgen gedreht haben.

Danach hiess es, «alles ist i. O.», bis man ein Jahr später nachkontrollierte, und nichts mehr in Ordnung war.

Vor vier Jahren wurde bei ihm zufällig ein Nierenzelltumor entdeckt, den man rasch entfernte. Danach hiess es, «alles ist i. O.», bis man ein Jahr später nachkontrollierte, und nichts mehr in Ordnung war. Die Niere musste ganz entfernt werden. Nochmals ein halbes Jahr später entdeckte man Metastasen im Beckenknochen und in der Lunge. «Dann gings los mit der Chemo.»

Hartmut sitzt, während er erzählt, in einem Spitalbett in der Palliativstation des Spitals Affoltern am Albis. Sie wird auch «Villa Sonnenberg» oder kurz «Villa» genannt. Der 76-Jährige liess sich stationär einweisen, um seinen Gesundheitszustand zu stabilisieren. «Mir mangelt es am Blut und an der Kraft», sagt er lapidar. Er erhielt mehrere Bluttransfusionen. Beim Spitalaufenthalt ging es auch darum, seine Frau ein bisschen zu entlasten und ein Unterstützungsangebot durch Freiwillige aufzugleisen. Krank sieht Hartmut nicht aus, obwohl er ein Pyjama trägt. Er fühle sich so gut, wie schon lange nicht mehr, sagt er.

«Die Chemotherapie zeigte Wirkung, aber vor allem Nebenwirkungen.»
Hartmut, Krebs-Patient

Die Chemotherapie damals habe «Wirkung gezeigt, aber vor allen Dingen Nebenwirkungen». Mit der Chemo sei es ihm schnell schlechter gegangen. Sein Onkologe sei ein nüchterner Typ, dem man alles aus der Nase habe ziehen müsse. Hartmut holte eine Zweitmeinung bei einem Wiener Onkologen ein.

Bald machten ihm Metastasen in den Knochen das Leben schwer. Er erlitt zwei Brüche im Beckenbogen, die ein Chirurg kunstvoll flickte und verschraubte. Der Arzt habe die Röntgenbilder danach in seiner Praxis aufgehängt, weil sie derart ästhetisch aussehen.

Nach der Operation ging Hartmut in eine Reha-Klinik. Dort verpassten die Ärzte, dass sich unter der Operationsnarbe ein grosses Hämatom gebildet hatte. Die Schmerzen des Patienten wurden immer stärker, und er erlitt einen Kreislaufzusammenbruch. Schliesslich wurde er zurück nach Zürich geschickt, wo man den Bluterguss «ausräumte» und ihm gegen die Infektion Antibiotika verabreichte. «Das hat mich Wochen zurückgeworfen», sagt Hartmut. Früher habe er viel Sport getrieben. Zu diesem Zeitpunkt seien seine Beine nur noch «dünn wie Streichhölzer» gewesen.

Hartmut spricht, ohne auf eine Frage zu warten. Er hat diese Geschichte vermutlich schon ein paar Mal erzählt. Wir befinden uns darin jetzt Mitte 2017. In diesem Jahr wurde er fünf Mal operiert. Die Knochenmetastasen – und vermutlich ein Sturz in der Reha-Klinik – hatten unter anderem zum Bruch des Brustbeins geführt. Unglaublich schmerzhaft sei das gewesen. «Da kann man nicht einmal mehr den Kopf drehen, ohne stark zu leiden.» Nach dieser Operation wollte er nicht mehr in die Rehabilitation gehen. Zu Hause führte er die Chemo weiter. Weil die Nebenwirkungen zu heftig waren, wurde sie abgesetzt.

Der Onkologe meinte daraufhin, jetzt habe er nicht mehr viele Mittel zur Verfügung – und schlug eine weitere Chemotherapie vor.

Dann folgte eine Immuntherapie. Sie war die «grosse Hoffnung» und half tatsächlich einige Monate. Hartmut fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Aber die Hoffnung zerschlug sich: Leider wurde durch diese Behandlung zwar das Wachstum der Metastasen in der Lunge gestoppt und im Beckenknochen etwas gebremst, aber in der Leber hingegen wurde es nicht beeinflusst. Diese Erkenntnis habe ihn getroffen wie ein «Hammer», so Hartmut. Ende Jahr setzte der Onkologe die Behandlung deshalb ab und probierte ein neues Mittel aus.

«Die Nebenwirkungen dieses Medikaments waren so furchtbar, dass wir nach zwei Wochen wieder damit aufhören mussten», sagt Hartmut. Es führte zu starker Übelkeit und zu Blutungen unter der Haut. Er zieht das Pyjama-Oberteil hoch und zeigt seinen mit Blutschwämmchen übersäten Oberkörper. Der Onkologe meinte daraufhin, jetzt habe er nicht mehr viele Mittel zur Verfügung – und schlug eine weitere Chemotherapie vor, die noch heftigere Nebenwirkungen gehabt hätte. Hartmut entschied sich – nach langem Ringen – dagegen. Der Arzt entgegnete, in diesem Fall sei seine Zeit halt sehr begrenzt.

«Ich muss die Verantwortung für meine Behandlung selber übernehmen – mit allen Konsequenzen.»

Letzten Sommer holte die Spitex Onko Plus mit ins Boot. Seither besucht Olaf Schulz den Patienten regelmässig. Neben der Symptomkontrolle und -behandlung der Nebenwirkungen gehören zur Betreuung auch Gespräche. Palliativpflegefachmann Schulz habe ihm Fragen vor Augen geführt, die er für sich beantworten musste, sagt Hartmut. Will ich mich weiterhin Medikamenten und Maschinen anvertrauen? Mit der Zeit sei ihm klar geworden, dass er selber Verantwortung übernehmen müsse für seine Behandlung – «mit allen Konsequenzen».

Hartmut schwärmt von Schulz – «ein persönlich und fachlich toller Typ» – und von Onko Plus: «Die Organisation macht, was die normale Onkologie nicht kann. Sie wirkt beruhigend, tröstlich und kompetent.» Neben den Schmerzen oder der Verdauung ist auch das Gefühlsleben ein Thema, das war für den Patienten neu. Was zählt in meinem Leben am meisten? war eine der Fragen, die sich ihm stellten. Was macht meine Lebensqualität aus? War eine andere Frage. Für Hartmut war klar: Beziehungen, Familie, Freunde. Das war für ihn zwar keine neue Erkenntnis, das Zwischenmenschliche aber erhielt in dieser Situation eine noch grössere Bedeutung.

Seine Kinder aus erster Ehe und seine drei Enkel seien ihm neben seiner Frau ebenfalls sehr wichtig, sagt Hartmut. Kurz vor dem Interview besuchte ihn sein Sohn. Und obwohl die beiden nach Hartmuts Pensionierung zehn Jahre lang zusammen eine Firma geführt hatten, war das Verhältnis bisher eher distanziert. In der «Villa» hätten sie sich umarmt, der Sohn habe des Vaters Hand gehalten. Tränen schiessen  Hartmut in die Augen, als er es erzählt. Was bedeutet das für ihn? «Ein grosses Stück Wärme.»

* Name geändert.

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