Ernst ist gegangen

13.11.18

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Ernst Widmer ist am neunten Tag seines Sterbefastens gestorben. Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit war kein einfacher Weg und brachte auch seine Frau in ein schweres Dilemma.

Es ist Donnerstag, der 8. November 2018. Vor einer Woche hat Ernst Widmer mit Sterbefasten begonnen. Etliche Male klingelt heute das Telefon, und Hedy Widmer, seine Frau, erzählt immer wieder geduldig, wie es um ihren Mann steht. «Er ist am Gehen», sagt sie, und Tränen rollen ihr übers Gesicht. Ernst liegt derweil im Wohnzimmer im Pflegebett, entspannt, mit halboffenen Augen. In der Fachsprache heisst das «somnolent», das heisst, er ist nur noch durch starke Reize weckbar. Er sagt nichts mehr, aber nimmt wahr, wenn man ihm die Hand drückt. Sein Mund scheint gelegentlich einen Laut zu formen. Manchmal kämen noch unverständliche Wörter über seine Lippen, sagt Hedy.

Am 1. November hat Ernst im Kreis seiner Familie und mit seinem Seelsorger das Sterbefasten mit einem Ritual aufgenommen, in dem alle nochmals die Gelegenheit hatten, ihre Liebe auszudrücken und die Dinge des Lebens zu versöhnen, die noch zwischen Ihnen standen. Da er bereits zuvor mit Essen aufgehört und seither auch den Flüssigkeitskonsum reduziert hat, gehe es wohl nicht mehr lange, bis seine ohnehin strapazierten Nieren versagen würden, erklärt Evi Ketterer. Die Pflegefachfrau und ihre Kolleginnen von Onko Plus sowie die lokale Spitex betreuen das Paar auf diesem letzten Weg. «Nierenversagen ist ein sanfter Tod. Man schläft recht ruhig dabei ein.»

«Ich wollte ihm keinen Bärendienst erweisen, indem ich ihm zu trinken gebe, gleichzeitig wollte ich ihm helfen.»
Hedy Widmer, Ehefrau

Seit fünf Nächten schläft Ernst Widmer im Pflegebett im Wohnzimmer, auf einer speziellen Matratze, die Druckstellen vermeiden soll. Seither zieht er auch sein Beatmungsmaske nicht mehr an, die er zuvor zum Schlafen getragen hat. Seit Jahren leidet er nämlich an Atemaussetzern im Schlaf. Gut möglich also, dass auch der Sauerstoffmangel seinem Körper allmählich zusetzt.

Vor zwei Tagen noch war Ernst Widmer unruhig und klagte bei seiner Frau immer wieder über Durstgefühle. «Bitte Hedy, gib mir doch etwas zu trinken!» Damit brachte er seine Gattin an den Rand der Verzweiflung. Sie wollte ihm zwar helfen, wusste aber, dass sie ihm mit der Zufuhr von Flüssigkeit «einen Bärendienst» erweisen würde. Das Sterben dauert länger, wenn man weiterhin trinkt, und es war doch sein Wunsch gewesen, endlich gehen zu können.

Onko-Plus-Mitarbeiterin Evi Ketterer ging notfallmässig beim Paar vorbei und sprach intensiv mit dem Patienten. Er sagte, dass er es sich nicht so schwierig vorgestellt habe. Sie fragte ihn klipp und klar, ob er dennoch an seinem Plan, mittels Sterbefasten aus dem Leben zu gehen, festhalten wolle. Wenn ja, dürfe er die Verantwortung dafür nicht seiner Frau übertragen. Seine Antwort lautete ganz deutlich «Ja», er wolle diesen Weg gehen und so schnell wie möglich sterben. Dann schob er die Teetasse fort. Seither habe er nichts mehr getrunken.

«Noch gestern sang er mit, sogar die komplizierte, zweite Stimme.»
Hedy Widmer

Was blieb, waren die Schmerzen. Ernst Widmer hatte bereits seit längerem eine Schmerzpumpe im Spinalkanal installiert, da er unter chronischen Schmerzen litt. Eine neue subkutane Pumpe brachte Onko-Plus-Mitarbeiterin Amira Spahic vor wenigen Tagen an, um die Trinkmenge durch die Medikamente ebenfalls zu reduzieren. Über diese erhält er auch eine geringe Dosis Beruhigungsmittel, um einem Delir, einer starken Verwirrtheit, vorzubeugen. Bei Schmerzspitzen können der Patient oder seine Frau eine zusätzliche Medikamentenabgabe auslösen. Ketterer füllt heute die Kassette der Pumpe auf und stellt fest, dass er in den letzten Stunden deutlich weniger gedrückt habe. Sie instruiert seine Frau, den Knopf zu betätigen, wenn er Zeichen von Schmerz zeige, etwa Falten auf der Stirn oder Tränenwasser.

Sie singe, um ihren Mann von den Schmerzen abzulenken, erzählt Hedy Widmer. Das scheint zu funktionieren, er werde ganz ruhig. Noch einen Tag zuvor habe er mitgesungen, sogar die kompliziertere, zweite Stimme. Auf Reisen hätten sie oft Kirchen besichtigt, und er habe häufig begonnen, darin zu singen, erzählt sie. «Das war mir zu Beginn meist peinlich, aber manchmal ergaben sich daraus schöne Begegnungen.»

Hedy Widmer sitzt am Küchentisch, trinkt Tee, zwingt sich, ein Ovosport zu essen. Eine Freundin habe ihr diese Süssigkeit vorbeigebracht. Die Ehefrau fühlt sich getragen, es kommen auch Freunde von ihr vorbei, um sich um sie zu kümmern. In der Nacht sitzen Freiwillige am Bett ihres Mannes, damit sie schlafen kann. Sie befinde sich zwar nicht mehr im Dilemma wie wegen seines Durstes. Dennoch fühle sie sich zerrissen, sagt sie. «Es ist endgültig – und mein Herz tut mir weh. Gleichzeitig halte ich ihn nicht mehr fest, es war sein Wunsch, endlich gehen zu können. Er hat genug gelitten.»

«Ich bin bereit zu sterben.»
Ernst Widmer, Schmerz- und Onkologiepatient

Ernst Widmer war ein geselliger Mensch. Der Titel seines Tagebuchs lautete: «Leben zum Begegnen ist der Sinn meines Lebens». Und tatsächlich lernte er leicht neue Menschen kennen, zum Beispiel auf seinen Ausflügen, auch als er bereits unter starken Schmerzen litt und nicht mehr gehen konnte. In den letzten zwei Jahren war er deshalb mit seinem roten Elektromobil unterwegs, er nannte es seinen «besten Freund» oder sein «Cabriolet». Das Gefährt der Firma Kyburz aus Freienstein, die auch die Post mit Elektro-Rollern beliefert, fuhr zwischen 5 und 20 Stundenkilometern schnell und bis zu hundert Kilometer am Stück. Ernst Widmer fuhr damit noch diesen Sommer von Stäfa, Rapperswil über den Seedamm bis auf den Etzel. Nach solchen Ausflügen war er glücklich. Er schrieb in sein Tagebuch: «Ich fühle das Glück, die Dankbarkeit, die Zufriedenheit und die Gnade Gottes in mir. […] Es ist die Transformation meiner verrückten chronischen Schmerzen.»

Ernst Widmer litt seit Jahren an unheilbaren chronischen Schmerzen und auch an einem Prostata-Karzinom mit Ablegern in den Knochen. In einem Text schrieb der gläubige reformierte Christ, der seit 14 Jahren Zen-Buddhismus studierte und auch katholische Praktiken übte: «Nebst Morphium hilft mir das Jesus-Gebet, meine Behinderung zu ertragen. Ich darf auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Ich bin bereit zum Sterben im Bewusstsein, dass ich auferstehen werde, wie es uns Jesus Christus verheissen hat.» Im August entschied er sich definitiv, begleitet vom spezialisierten Palliative-Care-Team Onko Plus mittels Sterbefasten aus dem Leben zu treten. «Der assistierte Suizid ist für mich keine Option», schrieb er in sein Tagebuch. Bei meinem ersten Besuch hatte er gesagt: «Ich möchte Gott mein Leben nicht vor die Füsse schmeissen, sondern es ihm zurückgeben, indem ich faste, singe und bete.»

Einen Tag nach unserem Besuch wurde Ernst Widmer von seinen Schmerzen erlöst. Meine Kollegin Evi Ketterer schrieb mir eine SMS. «Ernst ist vorhin gestorben. Hab kurz mit Hedy telefoniert. Ist alles gut, weil es so ging, wie er sich gewünscht hatte. Er konnte ganz friedlich sterben.»

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