Zwischen Anfang und Ende des Lebens
04.11.25
Andrea Baschnagel ist eine der Jüngsten im Palliaviva-Team und musste sich selbst schon früh mit dem Tod auseinandersetzen. In der Freizeit macht sie Musik, treibt Sport und liebt es, in Gesellschaft zu sein. Bald wird sich ihr Alltag verändern.
«Ich bin schwanger», verkündete Andrea Baschnagel im Spätsommer strahlend an einer Teamsitzung von Palliaviva. Wenige Tage zuvor hatte sie in Zürich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, in der sie öffentlich auch über schwierige und traurige Situationen sprach, die sie in ihrem Job antrifft. «Besonders die Schicksale jüngerer, unheilbar kranker Menschen beschäftigen mich», erklärte sie vor dem Publikum.
Schwangerschaft und Tod – der Anfang und die Vergänglichkeit des Lebens: Andrea Baschnagel gelingt es, diese Kontraste in ihrem Alltag ganz selbstverständlich miteinander zu verbinden. Die 29-jährige Pflegefachfrau, die auf Palliative Care spezialisiert ist, ist ein fröhlicher junger Mensch. Sie wirkt manchmal nachdenklich, strahlt eine für ihr Alter vielleicht ungewohnte Seriosität aus und bringt ein hohes Mass an Professionalität mit.
Realistische, traurige Szenarien
An einem Donnerstagnachmittag besucht Andrea Baschnagel einen Patienten, der erst Mitte vierzig ist, an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung leidet und viele Einschränkungen zu tragen hat. Sein Bewegungsradius ist eingeschränkt, er ist sturzgefährdet, hat vor allem morgens nach dem Aufwachen starke Schmerzen und ist von Müdigkeit und Erschöpfung geplagt. Das Gespräch, an dem auch die Ehefrau teilnimmt, dreht sich um die aktuellen Symptome, aber auch um die Planung der näheren Zukunft.
Die Palliaviva-Mitarbeiterin ermuntert die beiden, sich Gedanken darüber zu machen, was sein wird, wenn sich der Gesundheitszustand des Mannes weiter verschlechtert. Möchte er unter allen Umständen zu Hause bleiben? Was bedeutet das für die Belastung seiner Frau? Könnte er sich vorstellen, vielleicht auch nur vorübergehend in die Palliativstation eines Spitals oder in ein Hospiz einzutreten? Wenn ja, welche Einrichtung würde er bevorzugen?
Die beiden sind offen für diese Themen. Sie sind sich schon seit längerem bewusst, dass das Lebensende des Mannes absehbar ist. Die Diskussion zwischen dem Ehepaar verläuft ruhig, Andrea Baschnagel geht auf die Argumente ein, und bringt hin und wieder eine Information ins Gespräch ein. «Diese Situationen berühren mich», sagt sie später, als sie wieder im Auto sitzt und zu ihrem nächsten Einsatz fährt. «Wenn Menschen ein gesundes Mass an Realismus zeigen, macht mir das die Arbeit leichter. Aber immer ist auch eine Traurigkeit zu spüren.»
Sie erinnert sich an einen Patienten mit einem aggressiven Hirntumor. «Er öffnete mir die Tür, sagte Grüezi, und sofort begann er zu weinen.» Für Andrea Baschnagel ist auch das kein Problem, sie versteht es. «Gefühle müssen Platz haben.» Darum sei es für sie auch in Ordnung, wenn jemand wütend sei in einem Gespräch. «Gefühle dürfen nicht unterdrückt werden», sagt sie. «Und manchmal braucht es einfach Zeit, um sich anzunähern.»
Früher Verlust des Vaters
Zur Professionalität gehört für sie, ihre eigenen Erfahrungen nicht auf die Situation anderer zu projizieren. Andrea Baschnagels Vater starb, als er Mitte vierzig war, an einem Glioblastom. Sie war damals acht Jahre alt. Der Hirntumor riss ihn aus seinem «vollen Leben», wie sie sagt. «Er war in vielem sehr begabt und machte alles selber. Durch die Krankheit jedoch konnte er sich irgendwann sprachlich nicht mehr ausdrücken. Er verlor die Orientierung.» Andrea Baschnagel hat eine ältere und eine jüngere Schwester, die diese schwierige Zeit mit ihr und der Mutter sehr nah miterlebten. Dass sie als Kinder in diesen schmerzhaften Prozess einbezogen und nicht ausgeschlossen wurden, erachtet sie heute als Glück. «Ich habe mich in den Jahren danach intensiv damit auseinandergesetzt und das Geschehene reflektiert.»

Andrea Baschnagel absolvierte eine Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit und danach die Höhere Fachschule für Pflegefachpersonen. War ihre Berufswahl ein Versuch der Verarbeitung? «Ein Stück weit vielleicht», antwortet sie und fügt dann an: «Vor allem hatte ich den Drang, das, was passiert war, zu verstehen.» Ihr Abschlusssemester im HF-Studium habe sie auf der Neurochirurgie-Station des Kantonsspitals Aarau verbracht, sagt sie. «Das war nochmals eine Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, aber auf einer anderen Ebene.» Gleich erging es ihr später, als sie eine Zeit lang in der Rehaklink Bellikon arbeitete. «Die Erkenntnis, wie fragil der Kopf ist, aber auch, wie viel man beispielsweise nach einer Verletzung durch einen Unfall wieder lernen kann, fasziniert mich.»
Enger Austausch im Fachgremium
Regelmässig ist Andrea Baschnagel wie ihre anderen Kolleginnen vom Team Blau von Palliaviva beim Interdisziplinären Rapport im Kompetenzzentrum Palliative Care im Spital Bülach dabei. Dieser findet jeweils dienstags statt. In einem Sitzungszimmer treffen sich Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachpersonen sowie Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster anderer Disziplinen wie der Physiotherapie, der Ergotherapie oder dem Sozialdienst.
Der Reihe nach geht die Gruppe alle Patientinnen und Patienten, die momentan stationär auf der Palliativstation aufgenommen sind, durch. Bei einigen dreht sich die Diskussion um geeignete Anschlusslösungen: Ist es beispielsweise bei dem Patienten X sinnvoll, dass er in eine Rehabilitationsklinik austritt? Kann Patientin Y nach Hause entlassen werden? Mag die Familie die Pflege und Betreuung der unheilbar kranken Angehörigen stemmen? Oftmals wird dann das Palliaviva-Team involviert, um die Familien daheim auf ihrem weiteren Weg zu begleiten.

Zwischen Engagement und Abgrenzung
Die Aargauerin Andrea Baschnagel macht seit der Primarschule in ihrer Freizeit Musik. Sie spielt in einem Akkordeon-Orchester, ist in der freiwilligen Feuerwehr, fährt gerne Rennvelo und ist im Turnverein aktiv. Vor eineinhalb Jahren hat sie geheiratet.
Was sagen Gleichaltrige in ihrem Umfeld, wenn sie erzählt, dass sie in der Palliative Care arbeitet? «Einige sind erstaunt, und die meisten interessieren sich dafür, was dahintersteckt.» Viele assoziierten mit Palliative Care nur traurige Situationen und schlimme Schicksale. «Für mich ist es viel mehr. Ich erlebe in meinem Berufsalltag viel Schwieriges, aber auch stimmige Situationen und zufriedene Menschen.» Sie sieht es als ihre Aufgabe an, die Betroffenen darin zu unterstützen, die ihnen verbliebene Lebenszeit so gut wie möglich für sich zu nutzen.
Kann sie sich gut abgrenzen? «Ja, das kann ich unterschreiben», sagt Andrea Baschnagel. Das sei aber nicht immer schon so gewesen. Sie habe es lernen müssen, fügt sie an, denn sie habe Folgendes realisiert: «Ich kann nur einen guten Job machen, wenn ich mich auch abgrenzen kann.» Inzwischen falle es ihr leicht, nach Feierabend Verantwortung abzugeben. «Wir sind ein Team, und alle nehmen ihren Job ernst.» Für Andrea Baschnagel ist klar, dass sie nach der Geburt ihres Kindes weiter bei Palliaviva arbeiten möchte.