«Könnte sie nicht zu Hause sein, würde sie schon lange nicht mehr leben»

15.11.17

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Zuerst verlor Helena Eugsters Mutter, die an einer Demenz erkrankt ist, ihr Zeitverständnis. Die Tochter war in einer ersten Phase ihre Struktur: «Ich weckte sie frühzeitig, wenn sie etwas vorhatte, nahm sie mit ins Dorf, schaute, dass sie ihr Portemonnaie dabei hat und Geld drin ist. Sie sollte so lange wie möglich ihren normalen Alltag leben können.» (Bild: Fotolia/lassedesignen)

Helena Eugster tut das scheinbar Unmögliche und betreut ihre demente Mutter in deren eigenen vier Wänden, mit Hilfe von zwei Privatpflegerinnen und seit kurzem auch Onko Plus. Sie möchte ihrer «Mame» weitere Spitalaufenthalte ersparen.

«Meine Mutter baute ab, lange bevor sie die Diagnose Demenz bekam, wurde vergesslich und fiel in eine Depression. Den genauen Bescheid erhielten wir im Jahr 2000: Die Art der Krankheit, die meine Mame hat, befindet sich auf der Grenze zwischen Demenz und Alzheimer.

Wir wohnten damals schon im gleichen Haus wie sie. Es war ursprünglich ein Anliegen meines Vaters gewesen, dass man einander schaut. Nur ein Jahr, nachdem die Bagger für den Umbau aufgefahren waren, verstarb er selbst an Krebs.

Als erstes verlor meine Mutter die Orientierung und ihr Zeitverständnis. Ich behütete sie davor, Sachen zu vergessen: Arzttermine, ihren Kaffeeklatsch, Ausflüge mit der Wandergruppe. Ich war ihre Struktur, weckte sie frühzeitig, wenn sie etwas vorhatte, nahm sie mit ins Dorf, schaute, dass sie ihr Portemonnaie dabei hat und Geld drin ist. Sie sollte so lange wie möglich ihren normalen Alltag leben können. Das mit dem Wandern zum Beispiel funktionierte ziemlich gut, weil sich ein paar Personen in der Gruppe um sie kümmerten. Bis sie einmal ein Tobel hinunterstürzte. Danach konnten sie sie nicht mehr mitnehmen. Einige Bekannte wandten sich von ihr ab, als sie von der Diagnose erfuhren. Sie hat mich sowieso schon vergessen, sagten sie. Gegenüber Menschen mit Demenz gibt es viel Unverständnis.

Man handelt nicht einfach oder zerrt an den Menschen herum. So wünsche ich auch, dass Pflegende mit meiner Mutter umgehen.

Bis sie vor sieben Jahren ihr Bein brach, konnte ich sie gut in den Haushalt einbeziehen. Sie half mir beim Waschen, beim Kochen, im Garten, beim Bezahlen der Rechnungen. Dass es für einen Menschen mit Demenz wichtig ist, aktiv und im Alltag zu bleiben, sagten mir mein gesunder Menschenverstand und auch die Erfahrung, die ich als Gründerin und Leiterin einer Montessori-Schule gesammelt habe, zu der auch Kindergarten und Krippe gehören. In unserer Pädagogik stehen Achtsamkeit und ein respektvoller Umgang mit dem Gegenüber im Zentrum. Man kündigt an, bevor man einen Säugling hochhebt, man handelt nicht einfach oder zerrt an den Menschen herum. So wünsche ich auch, dass Pflegende mit meiner Mutter umgehen.

Nicht nur ich schaute mehrmals täglich bei ihr vorbei, sondern auch mein Mann und meine Tochter waren involviert. Der Zeitpunkt, ab dem wir sie nicht mehr alleine betreuen konnten, kam vor fünf Jahren: Sie begann wegzulaufen. Einmal, als ich selber krank im Bett lag, rief die Polizei an, weil sie sie aufgegriffen hatten. Nur mit Bluse war sie an einen kalten Nachmittag im November herumgeirrt, weit bis übers Dorfzentrum hinaus. Zum Glück konnte sie ihren Namen noch sagen. Ein anderes Mal ging sie an einem Wintermorgen früh in die Bäckerei, nur in Nachthemd und Mantel. Die Bäckersfrau machte ihr einen Kaffee und wickelte sie in eine Wolldecke. Es passierten noch weitere kuriose Dinge: Sie stand mit einem Wäschekorb voll Krimskrams an der Strasse und wartete, bis jemand sie abholt. Der Fernseher ängstigte sie, sie hatte das Gefühl, es befinde sich ein Mann im Zimmer. Das Schlimmste aber war, dass sie Betrügern, die sich als Handwerker ausgaben, Geld gegeben hatte, mehrere Tausend Franken.

Ihre Bezugsperson im Heim prophezeite, ich würde sie zurückbringen. Bis heute wohnt sie in ihren eigenen vier Wänden.

Ich meldete Mame in einer nahen Pflegeeinrichtung an, die auf Menschen mit Demenz spezialisiert ist. Als ich sie dorthin brachte, sagte sie: Da bliib ich nöd. Ich besuchte sie drei Mal pro Woche – und nach vier Wochen nahm ich sie wieder nach Hause. Mir gefiel es dort auch nicht: Überall standen halbvolle Essteller herum. Sie verirrte sich in dieser Institution mehrmals, und man fand sie im Keller wieder. Es fand meiner Ansicht nach kein Beziehungsaufbau statt. Als ich sie wieder nach Hause nahm, prophezeite ihre Bezugsperson, ich würde sie sicher wieder zurückbringen. Bis heute wohnt sie in ihren eigenen vier Wänden.

Ab dann begann die Pflege zu Hause. Über eine Agentur engagierten wir Ausländerinnen, die immer drei bis vier Wochen am Stück Tag und Nacht nach ihr schauten. Am Wochenende war sie jeweils bei uns. Lange brachte ich sie selbst ins Bett, nach und nach übernahmen die Pflegerinnen diese Aufgabe. Man muss halt akzeptieren, dass es verschiedene Menschen gibt. Einmal schlug eine neue Pflegerin Mame. Ich merkte es daran, dass sie an der Hand blutete. Diese Betreuerin blieb keine Stunde länger im Haus.

Ihre Lieblingspflegerin umarmt sie viel, streichelt sie oft. Man spürt, dass sie sich gern haben.

Jetzt wechseln sich immer die gleichen zwei Frauen ab, denen wir vertrauen. Meine Mutter liebt vor allem eine der beiden. Diese umarmt sie viel, streichelt sie oft. Man spürt, dass sie sich gegenseitig gerne haben. Die andere kocht wunderbar, pflegt sie auch sehr gut. Meiner Mutter ist sie jedoch zu laut. Sie mag keine lauten Worte. Auch wenn sie vielleicht nicht mehr alles begreift, spürt sie doch, welche Worte jemand wählt und ob man Respekt vor ihr hat.

Ihre Sprache verlor Mame nach und nach. Vor vier Jahren hörte sie ganz auf zu sprechen: Sie hat aber noch eine Körpersprache und sie brabbelt auch. Ich meine das nicht abwertend, sie teilt einem auf diese Weise etwas mit. Wenn sie aufgeregt oder unglücklich ist, brabbelt sie mehr und verdreht empört die Augen. Man kann sie relativ gut lesen, immer noch.

Ich habe zwei Enkelinnen, die heute drei und fünf Jahre alt sind. Mame hat die Babys immer richtig und sicher gehalten. So etwas verlernt man nicht. Sie freut sich immer sehr, wenn ihre Urenkelinnen sie besuchen.

Meine Mutter und ich kamen uns nahe, und ich musste mich irgendwann wieder emotional distanzieren.

Ich arbeitete immer Vollzeit. Es war zum Teil schon streng, ähnlich wie wenn ich wieder ein kleines Kind zu Hause hätte. Meine Mutter und ich kamen uns nahe, und ich musste mich irgendwann wieder ein bisschen emotional distanzieren. Ich nehme sie zum Beispiel nicht mehr jeden Abend zu uns herauf. Früher ass sie mit uns zu Abend und blieb bis 22 Uhr. Ich begann in ihrer Anwesenheit zu stricken, weil sie das Klicken der Laptoptastatur nervös machte. Das Problem war schliesslich die Treppe, die sie nicht mehr bewältigen konnte. Das überstieg meine körperlichen Kräfte, ich kam an eine Grenze. Seither sehe ich täglich mehrmals nach meiner Mame, aber ich habe die Abende für mich.

Mames heutigen Zustand würde ich so beschreiben: Sie ist in ihren Körper eingesperrt. Ihre geistige Entwicklung blieb in den letzten drei Jahren stabil, der körperliche Verfall ging jedoch weiter.

Wir haben immer noch schöne Momente: Zum Beispiel wenn sich Mame über etwas freut, wenn sie mich anlacht, wenn sie im Rollstuhl mit ihrer Pflegerin draussen war. Vor allem ihre Lieblingsbetreuerin geht täglich mit ihr raus, wenn es trocken ist. Meine Mutter hat noch Lebensqualität, davon bin ich überzeugt. Ihre Ansprüche haben einfach abgenommen: Sie freut sich heute an einem Stückchen Kuchen oder einem Besuch.

Als ich ihr sagte, dass ich sie wieder heimnehme, strahlte sie, als sei die Sonne aufgegangen.

Mames Spitalaufenthalte waren immer Schreckensmomente für mich. Vor zwei Jahren musste sie wegen eines Harnleiterinfekts eingewiesen werden. Zwei Operationen überstand sie relativ gut. Anfang Jahr wurde sie wegen einer Lungenentzündung eingeliefert. Obwohl das erste Antibiotikum wirkte, wurde das Medikament geändert und das zweite schlug nicht mehr an. Ihr Zustand verschlechterte sich. Es hiess dann, wir müssten uns darauf vorbereiten, dass sie stirbt. Überraschend erholte sie sich aber wieder, und als ich ihr sagte, dass ich sie wieder heimnehme, strahlte sie, als sei die Sonne aufgegangen.

Ich habe das Gefühl, man nimmt meine demente Mutter, die inzwischen 90 Jahre alt ist, im Spital nicht ernst und probiert einfach etwas aus. Sie soll nicht mehr eingeliefert werden. Eine Pflegende riet mir, mich mit Onko Plus in Verbindung zu setzen. Eine Palliativ-Pflegefachperson kam zu Beginn alle zwei, später alle drei Wochen zur Kontrolle vorbei. Weil es Mame momentan so gut geht, sind wir bei einem telefonischen Kontakt verblieben. Ich bin froh, dass ich Tag und Nacht eine kompetente Person erreichen kann, die mich in meinen Entscheidungen unterstützt.

Unser Hausarzt sagt: Deine Mame würde schon lange nicht mehr leben, wenn sie nicht zu Hause sein könnte.»

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