Die Kindheit der Ursula H.

22.06.18

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Onko-Plus-Patientin Ursula H. hatte keine einfache Kindheit. Schon früh ging es bei ihr ums nackte Überleben. Die lebenslustige 64-Jährige glaubt aber auch, dass sie das Erlebte stark gemacht hat.

Ursula H. musste vor ein paar Woche die schwierigste Entscheidung ihres Lebens fällen: Fährt sie mit der Chemotherapie weiter oder nicht? Sie hat sich schliesslich dagegen entschieden. Dieser Entscheid habe sehr viel Mut gebraucht, sagt sie. Es sei aber ein logischer Schritt gewesen. Er beruhe auf ihrem Leben, auf allem, was sie bisher durchgemacht hat. Er beruht auf ihrem Kampfgeist.

Den folgenden Bericht über ihre Kindheit hat Ursula H. eigenhändig verfasst:

«Meine Mutter kam als Flüchtling aus Österreich in die Schweiz und war schwer vom Krieg traumatisiert. Während der russischen Besatzung musste sie Furchtbares durchmachen.

Mein Vater war ein uneheliches Kind, was in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine furchtbare Schande war. Von seiner Mutter vernachlässigt, war er ebenfalls traumatisiert.

Diese beiden fanden sich in der Schweiz und bekamen sofort Kinder. Innerhalb von drei Jahren drei. Ich war das jüngste und für meine Mutter zu viel. Das erste halbe Jahr war ich immer wieder im Spital, weil ich keine Nahrung im Magen halten konnte. Geborgenheit hatte ich nicht. Man hatte nicht Zeit für alle Babys. Man wurde versorgt und Punkt. Mit acht Monaten kam ich an einen Pflegeplatz. Ich war ein hübsches, blond gelocktes Baby mit himmelblauen Augen. Das hat mich wohl vor Schlimmerem bewahrt. Dort wurde ich aufgepäppelt. Die Rachitis vom Mangel an Vitamin D wurde ich aber nur zum Teil wieder los.

«Ich hatte niemanden, der mich in die Arme nahm und tröstete, wenn ich schlechte und traurige Sachen erlebte.»

Ich war brav und angepasst und dauernd krank. Die Impfung gegen Kinderkrankheiten machte man damals in den 50er- und 60er-Jahren, indem man zu kranken Kindern geschickt wurde, um sich anzustecken.

Als der Vater meiner Pflegemutter starb (er war schwer dement), änderte sich Vieles. Denn der ehemalige Pfarrer war in der Pflegefamilie eigentlich der Einzige gewesen, der sich um mich kümmerte. Nach seinem Tod musste ich selber schauen, wo ich blieb. Mit neun Jahren war ich ein Schlüsselkind. Ich hatte niemanden, der mich in die Arme nahm und tröstete, wenn ich schlechte und traurige Sachen erlebte. Wurde ich krank, war ich allein in diesem riesigen Haus.

Ich war scheu und hatte kein Selbstwertgefühl. Meine Mitschüler hatten es richtig auf mich abgesehen. Mobbing, wie man es heute nennt, kannte man damals noch nicht. Und ich hatte niemanden zum Reden. Ich war ein trauriges Kind, das sich in seine Fantasiewelt zurückzog, träumte und viele, viele Bücher las.

«Da habe ich zum ersten Mal gedacht, dass Sterben mich vor diesem Zustand befreien würde.»

In der Schule hatte ich sehr gute Noten. Aber als es darum ging, eine höhere Schule zu besuchen, wurde mir von meinen Pflegeleuten erklärt, dass ich als Kind von unterprivilegierten Arbeitern keine höheren Klassen zu besuchen hatte. So was wie ich im höheren Stand, das kam nicht in Frage. Ich sollte lernen, den Haushalt zu führen, einen Bauarbeiter zu heiraten und viele Kinder zu gebären.  Pack sollte unten bleiben. Was für eine Arroganz!

Der Psychoterror fing erst richtig an. Ich war nun kein blondes, süssen Mädchen mehr, sondern ein hochgeschossener Teenager, dünn wie ein Brett und picklig. «Du bist hässlich, du kannst nichts, du bist nichts, geh mir aus dem Weg», waren noch freundliche Worte. Ich war ausgestossen, ein unnötiges Übel. Es wurde halblaut schlimm über mich geredet, gerade so laut, dass ich es hörte.

Da habe ich zum ersten Mal gedacht, dass Sterben mich vor diesem Zustand befreien würde. Ich war ja nichts und von niemandem geliebt.

Nach der Schulzeit wurde ich ins Haushaltlehrjahr geschickt: 16 Stunden schuften für nur 60 Franken im Monat. Wenn ich meine Bücher nicht gehabt hätte, die mir Vergessen schenkten, wenn ich sie las, wäre ich durchgedreht. Wieder war ich nur das dumme und jetzt auch dicke Arbeiterkind, das einfach nichts wert war.

Danach wurde ich in die französische Schweiz geschickt. Das war damals üblich. Wieder schuften für lau (fast nichts).

«Während ich als Polizistin arbeitete, lernte ich meinen wunderbaren Mann kennen. Einen hochgewachsenen, schönen Polizeibeamten.»

Aber dann fing ich an, an mich zu denken. Ich wurde mutiger und lernte einen Pflegeberuf. Da konnte ich helfen und Verantwortung übernehmen. Es war schwer, dem langen Arm der Pflegemutter zu entgehen. Sie versuchte immer noch, mich fertig zu machen.

1973 ging ich für ein Jahr als Aupair nach Amerika, weg von allem. Dort musste ich mich mehr als einmal beweisen. Aber da ich gewohnt war, selber zu schauen, wie ich aus Problemen rauskam, meisterte ich das ganz gut. Das war mir eine Lehre fürs Leben.

Zurück in der Schweiz nahm ich Gelegenheitsjobs an, bis ich in die Polizeischule aufgenommen wurde. Während ich als Polizistin arbeitete, lernte ich meinen wunderbaren Mann kennen. Einen hochgewachsenen, schönen Polizeibeamten. Wir sind seit bald 41 Jahren verheiratet.»

Fortsetzung folgt.

Impressionen aus Ursula H.s Fotoalbum. «Ich war ein hübsches, blond gelocktes Baby mit himmelblauen Augen. Das hat mich wohl vor Schlimmerem bewahrt», sagt Ursula H. über die Zeit, in der sie zu einer Pflegefamilie kam (Bilder zVg).

 

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